Deutschland steht eine möglichen Abwanderung großer Unternehmen bevor, denn die heimischen Hersteller von Autoteilen, Chemikalien und Stahl haben mit Strompreisen zu kämpfen, die fast täglich neue Höchststände erreichen. Die Strom- und Gaspreise in Deutschland haben sich in nur zwei Monaten mehr als verdoppelt, wobei der Jahresstrompreis – ein Richtwert für den Kontinent – auf 570 Euro pro Megawattstunde gestiegen ist. Vor zwei Jahren lag er noch bei 40 Euro.
„Die Energieinflation ist hier viel dramatischer als anderswo“, sagte Ralf Stoffels, Geschäftsführer der BIW Isolierstoffe GmbH, die Silikonteile für die Automobil-, Luft- und Raumfahrt- und Haushaltsgeräteindustrie herstellt. „Ich befürchte eine allmähliche De-Industrialisierung der deutschen Wirtschaft.“
Deutschland war auf Gas aus Russland angewiesen, um seine Kraftwerke und Fabriken mit Energie zu versorgen, aber jetzt bereitet es sich auf eine noch nie dagewesene Herausforderung vor: die Lichter am Leuchten und die Unternehmen am Laufen zu halten, nachdem Russland die Gaslieferungen gekürzt hat. Vorübergehende Stilllegungen aufgrund hoher Preise hat es schon früher gegeben, als die Düngemittel- und Stahlproduktion im Dezember und März gedrosselt wurde.
Steigende Kosten treffen Unternehmen
Jetzt erleben die Preise einen noch nachhaltigeren Aufschwung, der die Lage weiter verschärft. Die europäischen Gaspreise für den nächsten Monat erreichten am Donnerstag ein Rekordhoch von 241 Euro pro Megawattstunde und lagen damit etwa elfmal höher als zu dieser Jahreszeit üblich.
Während die Regierung die Preiserhöhungen für die Haushalte bis zu einem gewissen Grad begrenzt, sind die Unternehmen nicht immun gegen diese steigenden Kosten, und viele werden die Kosten an die Kunden weitergeben oder sogar ganz schließen.
„Die Preise stellen für viele energieintensive Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, eine große Belastung dar“, sagte Evonik-Sprecher Matthias Ruch. Der Chemiekonzern unterhält Anlagen in 27 Ländern. Das Unternehmen ersetzt bis zu 40 Prozent seines deutschen Gasbedarfs durch Flüssiggas und Kohle. Einen Teil der höheren Kosten gibt es an die Kunden weiter. An eine Verlagerung der Produktion werde nicht gedacht, sagte der Sprecher.
Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass Deutschland Position als Industriestandort ins Wanken gerät. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres stieg das Volumen der Chemieimporte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um etwa 27 Prozent, wie aus den von der Beratungsfirma Oxford Economics ausgewerteten Regierungsdaten hervorgeht. Gleichzeitig ging die Chemieproduktion zurück, im Juni um fast 8 Prozent im Vergleich zum Dezember.
Risiko für soziale Unruhen
„Sollte die Industrie aufgrund der Energieknappheit zu verkürzten Arbeitswochen und Lohnkürzungen gezwungen sein, dann werde ich nervös“, sagte Martin Devenish, ein früherer Managing Director von Goldman Sachs, der jetzt für S-RM Intelligence & Risk Consulting arbeitet. „Die Zutaten für soziale Spannungen sind vorhanden, und das Risiko dafür wird unterschätzt.“
Der Internationale Währungsfonds erklärte im vergangenen Monat, dass Deutschland in diesem Jahr wegen der Abhängigkeit seiner Industrie von russischem Gas das schwächste Wirtschaftswachstum in der Gruppe der G7-Länder aufweisen wird.
Europas größter Kupferproduzent, die in Hamburg ansässige Aurubis, will den Gasverbrauch minimieren und die Stromkosten an die Kunden weitergeben, sagte Vorstandsvorsitzender Roland Harings am 5. August. Der Zuckergigant Südzucker hat Notfallpläne für den Fall ausgearbeitet, dass Russland die Gaslieferungen nach Deutschland vollständig unterbricht, teilte ein Sprecher per E-Mail mit.
BMW verstärkt seine Vorbereitungen auf eine mögliche Verknappung. Der in München ansässige Automobilhersteller betreibt 37 gasbetriebene Anlagen zur Erzeugung von Wärme und Strom in Werken in Deutschland und Österreich und erwägt, stattdessen lokale Energieversorger zu nutzen.
Das Verpackungsunternehmen Delkeskamp Verpackungswerke plant, eine Papierfabrik in Nortrup wegen der hohen Energiekosten zu schließen, wodurch 70 Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren würden.
Ein anhaltender Anstieg der Energiepreise könnte die wirtschaftliche Landschaft des Kontinents verändern, so Simone Tagliapietra, Senior Fellow bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. „Einige Industrien werden unter ernsthaften Stress geraten und ihre Produktion in Europa überdenken müssen“, sagte er.
Mitarbeit: Samuel Gebre, Will Mathis und Anna Shiryaevskaya
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