Der mächtigste Mann der Welt ist auch nur eine Heulsuse. Gleich zwei Mal innerhalb einer Woche flennte US-Präsident Barack Obama: Vor 20 000 Zuschauern wischte er sich beim letzten Auftritt vor der US-Wahl im November 2012 ein Tränchen ab. Zu diesem Zeitpunkt konnte man noch rätseln, ob es nur am kalten Abendwind in Iowa lag. Doch dann, am Tag nach der gewonnenen Wahl, während einer vermeintlich spontanen Ansprache im Kreis seiner engsten Mitarbeiter, blieb kein Zweifel: Der Präsident weinte. No drama Obama, der coolste Präsident aller Zeiten, zeigte Gefühle.
Woher wir das wissen? Weil seine Berater gleich nach dem Auftritt das Video an den großen Presse- und Fanverteiler schickten. Das war wohl keine Panne, sondern kühl kalkuliert. Offensichtlich waren die PR-Profis der Kampagne zum Schluss gelangt, dass es dem Lenker der Weltmacht USA und Oberbefehlshaber der Streitkräfte nutzen würde, wenn er seine Emotionen zur Schau stellt.
Persönliches ist im Amt politisch. Und deshalb diskutiert man nun auch in Deutschland, mit Input der unvermeidlich Experten aus Politik, Wissenschaft, Psychologie und Werbung, was es mit Peer Steinbrücks Tränen auf sich hat. Waren sie echt oder gespielt? Nutzen oder schaden sie dem Kanzlerkandidaten der SPD? War es Rührung oder Schwäche? Beweist der Ausfluss salziger Körperflüssigkeit Charaktermangel oder –stärke? Und am Ende natürlich die K-Frage. Kann der das?
Den Verdacht, dass es sich um eine Showeinlage gehandelt hat, widerlegt der Augenschein ziemlich eindeutig. So abgefuckt – man könnte es auch professionell nennen - ist keiner (außer vielleicht Obama). Ansonsten scheint sich in der Debatte gerade der Konsens herauszubilden, dass der Mann selbstmitleidig und jammerig ist. Diese Interpretation bietet sich ja auch an: Bei einem, der schon auf der Verliererstraße läuft, verlangt die Regie Tapferkeit, nicht Schwäche. Während bei den ganz Coolen (siehe Obama) ein bisschen Verletzlichkeit schon wieder cool sein kann. SPD zero points.
Zynisch? Ja, so zynisch wie wir Journalisten halt sind. Teils aus Neigung, teils aus Erfahrung. Und weil Sie, der Leser, der Wähler das von uns erwarten. Denn entweder das, oder Sie belügen sich selbst. Sie wollen den Politiker der beides ist: authentisch und angepasst ans Überleben im Container der Politik. Einen, der ganz er selbst ist und genau so, wie er sein soll. Der nicht skrupellos ist, aber nach oben kommt. Der Mensch ist und Maschine.
Jeder weiß, dass das unmöglich ist. Deswegen weichen wir in der politischen Berichterstattung gerne auf die Kategorie der instrumentellen Beurteilung aus: Wie gut sind die Aufführung und der Schauspieler? Zum Beispiel, wenn Steinbrück fordert, ein(e) Bundeskanzler(in) müsse mehr verdienen. Ich kenne viele Kollegen, die das genauso sehen. Ich übrigens auch, und ich trinke auch selten Pinot Grigio unter 5 Euro. Aber die SPD-Basis vielleicht schon. Also schreiben wir: Was für ein dummer Fehler des Pannen-Peer. Wie kann der Mann so etwas im Wahlkampf sagen?! Dem mangelt es an Professionalität. Zynismus wird so zum objektiven Bewertungsmaßstab erhoben.
Rollenspiel gehört zu jedem Lebensbereich, ob Politik oder Arbeitsleben. Steinbrück ist bei dem Talkshow-Auftritt mit seiner Frau aus der Rolle des siegesgewissen Kandidaten gefallen. Wenn man möchte – und viele wollen – kann man schlussfolgern, dass er der Belastung als Kanzler nicht standhalten würde. Da darf dann auch der abgedroschene Verweis auf die Küche und die Hitze nicht fehlen. Oder man hält es mit dem englischen Schriftsteller Douglas Adams, der gesagt hat: „Jemandem, der die Fähigkeit hat, ins Amt des Präsidenten zu gelangen, sollte auf keinen Fall erlaubt werden, dieses Amt auszuüben.“ Spräche eindeutig für Steinbrück. Aber am Ende ist es doch viel banaler: Politiker sind auch Menschen. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Ines Zöttl schreibt jeden Mittwoch über internationale Wirtschafts- und Politikthemen. Ihre letzten Kolumnen: Obamas Sündenfall, Zyperns Stunde Null und Danke, Herr Liefers
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