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Kolumne Obamas Sündenfall

Die Zwangsernährung von Häftlingen im Gefangenenlager Guantanamo ist Folter. US-Präsident Obama trägt die Verantwortung für die menschenunwürdige Behandlung der Insassen.

Als sich vergangene Woche herausstellte, dass der von den Deutschen so geschätzte US-Präsident Barack Obama Bürger auf der ganzen Welt ausspioniert, war die Aufregung groß. Manch einer fühlte sich unangenehm an George W. Bush und seinen Antiterrorkampf erinnert. Doch es bleibt ein gravierender Unterschied: Bush war wenigstens ehrlich.

Der konservative Präsident des 9/11 hat nie ein Hehl daraus gemacht, was für ihn in der Abwägung zwischen Sicherheit und Bürgerrechten vorgeht: Der Zweck heiligte die Mittel und zu denen gehörte dann auch Folter. Obama dagegen trat mit dem Anspruch an, die vom Vorgänger beschädigte „moralische Autorität“ der USA wiederherzustellen. Auch für dieses Versprechen wurde er gewählt – von den Amerikanern am 4. November 2008 per Stimmzettel, von Millionen Menschen in der Welt per begeisterter Akklamation. Symbol für das neue Amerika sollte die Schließung des völkerrechtlich fragwürdigen Gefangenenlagers Guantanamo auf Kuba sein.

Passiert ist das bekanntermaßen nicht. In einer seiner mitreißenden Reden hat Obama vor ein paar Tagen mal wieder die Schließung von „Gitmo“, wie das Gefängnis im Washingtoner Politsprech heißt, angemahnt. Tatsächlich wird das Lager mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dann noch in Betrieb sein, wenn der Demokrat nach dem Ende seiner zweiten Amtszeit im Januar 2017 das Weiße Haus räumt. Das ist beschämend für die USA und ihren Präsidenten, auch wenn der sich selbst als Opfer eines kooperationsunwilligen Kongresses fühlt.

Doch Obama setzt auf diesen Misserfolg noch aktiv auf. Mit einer menschenunwürdigen Behandlung der Insassen, die man auch Folter nennen kann: der Zwangsernährung.

„Zwangsernährung“ klingt ja technisch, fast schon fürsorglich: Sie verhindert schließlich, dass ein Mensch hungert und vielleicht sogar stirbt. Doch tatsächlich bedeutet Zwangsernährung, dass ein anderer diesem Menschen sein ureigenstes Recht nimmt, über den eigenen Körper und das eigene Leben zu entscheiden. Auch ein Gefangener hat ein Recht auf Selbstbestimmung genauso wie auf körperliche und physische Integrität. Und in Guantanamo beschränkt sich der Staat nicht auf den fragwürdigen Eingriff in die Grundrechte der Insassen – er tut dies auf eine Weise, die erniedrigend und entwürdigend ist.

Zur Erinnerung: Von den noch 166 Insassen in Guantanamo sind 86 ganz offiziell zur Freilassung freigegeben: Sie gelten als unschuldig oder ungefährlich, jedenfalls hat die US-Regierung nichts gegen sie in der Hand. Freigekommen sind sie trotzdem nicht. Und Hoffnung haben sie wohl auch nicht mehr.

Sie und weitere Gefangene, insgesamt 100, verweigern inzwischen die Nahrungsaufnahme. Rund ein Drittel davon, 35, wird zwangsernährt – und Zwang heißt hier Gewalt. Zwei Mal am Tag werden die protestierenden Häftlinge auf einem Stuhl festgeschnallt. Arme, Füße, Beine werden fixiert, dann wird ihnen ein Schlauch durch Nase und Schlund gesteckt und eine Masse in den Magen gestopft. „Ensure“ heißt die Speise und soll sehr nahrhaft sein. Einem Artikel der New York Times zufolge gibt es dazu noch ein Antiübelkeitsmedikament, das allerdings höchst gefährliche Nebenwirkungen haben kann. Mahlzeit!

Die Frage, ob die Zwangsernährung von Häftlingen legal und legitim ist, wird immer wieder diskutiert, wie zum Beispiel im Fall des Schweizer Hanfbauern Bernard Rappaz. Wenn man sich sehr anstrengt, kann man Argumente dafür finden, warum das rechtlich akzeptabel ist. Zum Beispiel wegen der Fürsorgepflicht des Staates und womöglich auch wegen des Strafverfolgungsinteresses.

Im Fall von Guantanamo aber überzeugen diese Argumente noch weniger als sonst. Die Insassen handeln nicht im Affekt, unzurechnungsfähig sind sie mutmaßlich auch nicht. Der Hungerstreik ist ihr Instrument einer freien Meinungsäußerung, auch wenn das niemand gefallen kann. Es ist ihr Protest gegen die Haft und die Bedingungen dieser Haft. Ob der erhobene Vorwurf stimmt, dass Korane vom Durchsuchungspersonal entweiht wurden oder nicht, ist dabei nicht entscheidend. Es ist nicht Sache der Gefängnisleitung zu entscheiden, ob ein Hungerstreik angemessen ist. Es ist die Freiheit des Einzelnen.

Wenn die Gefängnisinsassen hinnehmen, dass sie womöglich sterben, muss dies auch der Staat. Für den Ruf des US-Präsidenten wären tote Guantanamo-Insassen noch schädlicher als lebende. Aber viele Experten und Organisationen sind überzeugt, dass die dort praktizierte Zwangsernährung ein Verstoß gegen internationales Recht ist. Einer, bei dem Obama sich nicht hinter anderen verstecken kann. Auch nicht hinter George W. Bush.

Ines Zöttl schreibt jeden Mittwoch über internationale Wirtschafts- und Politikthemen

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