Hinter Pietsch donnern Lkw im 30-Sekunden-Takt durch die Einfahrt des Containerterminals Altenwerder. Bis zu 3500 Laster am Tag bringen oder holen die Container ab, die sich auf dem Kai stapeln.
Der Hamburger Hafen ist eine der Lebensadern der deutschen Wirtschaft – und eine der größten CO2-Quellen der Stadt. Rund 170.000 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr gehen auf das Konto des Hafenbetreibers HHLA. Aber Pietsch, der Nachhaltigkeitsbeauftragte des Unternehmens, sagt: „Bis 2030 wollen wir unsere absoluten CO2-Emissionen um die Hälfte reduzieren“ – im Vergleich zu 2018. Bis 2040 will die HHLA sogar klimaneutral sein. Das neue Vorzeigeterminal Altenwerder ist rechnerisch schon heute so weit.
Die Umstellung im Hafen ist Teil eines großen Plans. Der Hamburger Senat prescht beim Klimaschutz vor – und will sogar den Bund überflügeln. Dafür hat die rot-grüne Landesregierung im Dezember einen aufsehenerregenden Klimaplan vorgelegt, der nicht weniger als 400 Einzelmaßnahmen umfasst – vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs bis zu einem Verbot von Ölheizungen für Neubauten bereits ab 2022 sowie der Pflicht, neue Häuser mit Solaranlagen auszustatten. Per Gesetz erhalten alle Sektoren – Verkehr, Gebäude, Handel und Industrie – klare CO2-Vorgaben, deren Einhaltung konsequent überwacht wird. Es soll nicht laufen wie im Bund, wo bislang viele Ziele nur auf dem Papier standen und ihre Nichtbeachtung mit einem Schulterzucken quittiert wurde.
Ausgerechnet das Bundesland, das sich mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern als größte Industriestadt der Republik versteht, könnte damit zum deutschen Vorreiter beim Klimaschutz werden. Hamburg habe mit dem Plan eine „Leuchtturmfunktion“ übernommen, sagt Gero Lücking, Geschäftsführer des Ökostromversorgers Lichtblick, der seinen Sitz in der Stadt hat. „Die Ziele sind deutlich ehrgeiziger als das, was Ende 2019 im Klimapaket der Bundesregierung vereinbart wurde.“
Vor allem ist der Hamburger Plan der erste, der konkret beziffert, was seine einzelnen Maßnahmen an CO2 einsparen sollen. Und noch etwas ist besonders: Um den Klimaschutz voranzubringen, ohne dabei der Industrie mit ihren rund 120.000 Jobs zu schaden, hat sich die Politik in Hamburg mit der Wirtschaft verbündet. „Es funktioniert nicht, wenn wir uns gegenseitig blockieren und Vorwürfe machen“, sagt der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), der bei der Bürgerschaftswahl am 23. Februar sein Amt verteidigen will. Größter Gegner: die Grünen.
Der Weg ins Klimaparadies
Wie weit der Weg ins Klimaparadies aber noch ist, lässt sich vom Terminal Altenwerder aus erkennen: Am Horizont bläst das Vattenfall-Steinkohlekraftwerk Moorburg, eine der größten CO2-Schleudern im Norden, graue Wolken in den blauen Himmel über der Elbe. Die 2015 eröffnete Anlage kann fast den kompletten Strombedarf der Hamburger Haushalte und Industriebetriebe decken. Die börsennotierte HHLA, an der die Stadt Hamburg die Mehrheit der Anteile hält, nutzt in ihrem Vorzeigeterminal Ökostrom – aber fällt das angesichts des Kraftwerks im Hintergrund groß ins Gewicht?
In der Anlage in Altenwerder wird alles, was früher mit Dieselmotoren gemacht wurde, elektrifiziert – etwa die autonom gesteuerten Transportwagen, die Container vom Schiff zu den Zwischenlagern bewegen. Bis vor Kurzem wurden hier noch 4,5 Millionen Liter Diesel im Jahr verbrannt. Nun fährt bereits die Hälfte der Flotte elektrisch. In vier Jahren soll auch der Rest umgestellt sein.
„Netter Nebeneffekt: Es ist deutlich leiser“, sagt HHLA-Manager Pietsch. Mit seinem Team hat er die Energiebilanz nach Einsparoptionen durchkämmt. Oft ging es um Kleinigkeiten wie die Frage, ob bestimmte Lampen immer brennen müssen oder nur, wenn gerade Laster beladen werden. Manchmal wurde Größeres verhandelt, etwa die Energieversorgung der Transporter. „Man konzentriert sich erst mal auf Dinge, die umsetzbar und auch wirtschaftlich vertretbar sind“, sagt Pietsch.
Bis 2030 will Hamburg – analog zum Bund – seine CO2-Emissionen um 55 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 drücken. Bis 2050 sollen es mindestens 95 Prozent sein. Bisher aber war die Stadt beim Abbau von Treibhausgasen langsamer als der Rest des Landes. Lag Hamburgs CO2-Ausstoß 1990 bei 20,7 Millionen Tonnen, was 1,6 Prozent der deutschen Gesamtemissionen entsprach, so sanken die Emissionen bis 2017 um rund ein Fünftel, auf 16,4 Millionen Tonnen. Im Bund sanken sie zeitgleich um mehr als ein Viertel – was aber immer noch deutlich weniger ist als geplant. Umso größer ist der Sprung, den Hamburg seinem Klimaplan zufolge nun schaffen muss: Bis 2030 soll der Gesamtausstoß der Stadt auf 9,3 Millionen Tonnen CO2 sinken. Auf den Industriesektor sollen dann nur noch knapp drei Millionen Tonnen entfallen – ein Drittel weniger als 2017.
Der Mann, der diese Ziele durchsetzen will, empfängt im Amtszimmer des Bürgermeisters im Rathaus, einem hanseatisch gediegenen Raum mit viel Holz und Marmor. Ein Kellner im weißen Anzug serviert Tee. Aus dem Fenster hat Peter Tschentscher freien Blick auf den Rathausmarkt, wo die Aktivisten von Fridays for Future seit Monaten für mehr Klimaschutz demonstrieren.
Wenn er auf Fridays-for-Future-Leute trifft, stellt Tschentscher oft fest: „Die haben kein Vertrauen in unsere Generation.“ Das werde sich in Hamburg dann ändern, wenn der Senat beweise, dass sein Klimaplan funktioniere. „Realistisch“ nennt Tschentscher dessen Zielvorgaben: „Es macht keinen Sinn, Pläne zu schreiben, mit denen man sich selbst täuscht.“
Doch der frühere Finanzsenator will den Klimaschutz nicht gegen Hamburgs Wirtschaft durchdrücken. In der Stadt sitzen jede Menge große Industrieunternehmen: der Kupferkonzern Aurubis, der Aluminiumhersteller Trimet, ArcelorMittal, Airbus, Daimler, Carlsberg. Rund 15 Prozent der Wertschöpfung im Bundesland gehen auf das Konto der Industrie. Man dürfe diese „Säule der Hamburger Wirtschaft“ nicht gefährden, sagt Tschentscher.
Beim Klimaschutz müsse man weiter denken, sagt der Bürgermeister. „Wenn wir unsere drei größten Unternehmen der Grundstoffindustrie dichtmachen, sind wir sofort Weltmeister bei der CO2-Verringerung.“ Doch für das weltweite Klima sei damit nichts gewonnen. „Dann würde das Kupfer, der Stahl und das Aluminium auch noch von China, Indien oder den USA produziert, um die weltweite Nachfrage zu bedienen“ – jedoch mit viel schlechterer CO2-Bilanz. Wenn man den Klimaschutz dagegen mit neuen Produktionsverfahren angehe, sei dies sogar eine „Riesenchance“, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu stärken, sagt Tschentscher.
Während Spitzenpolitiker und Industrie anderswo lieber über die andere Seite klagen, gibt es in Hamburg schon länger einen engen Austausch. Um den Mangel an Neubauten zu beheben und den Mietmarkt zu entlasten, schlossen Senat und Bauwirtschaft vor einigen Jahren etwa das „Bündnis für das Wohnen“ – eine Alternative zu Brachiallösungen mit zweifelhaftem Nutzen wie dem Berliner Mietendeckel.
Ende 2019 folgte das „Bündnis für die Industrie der Zukunft“ zwischen dem Senat und dem Hamburger Industrieverband. Der Deal: Die Unternehmen investieren in konkrete Projekte, um klimaschonender zu produzieren. Dabei werden sie mit schnelleren Genehmigungen und, wo es geht, mit Förderprogrammen unterstützt. Vor allem aber überlässt es der Senat der Industrie selbst, wie sie Klimaschutz betreibt. Hauptsache, sie erreicht ihr CO2-Ziel.
Abwärme nutzbar machen
Das Werk von Aurubis liegt im Industriestadtteil Veddel, am nördlichen Arm der Elbe. Das börsennotierte Unternehmen, 1866 gegründet, ist einer der größten Kupferproduzenten Europas: 10 Mrd. Euro Umsatz, 2300 Mitarbeiter allein in Hamburg, mehr als eine Million Tonnen Kupferprodukte pro Jahr, die in Kabeln, Elektronikteilen, Autos, Handys und Windrädern in aller Welt landen.
Für Unternehmen wie Aurubis wurde der Begriff der „energieintensiven Industrie“ erfunden. Um das pulverförmige Kupferkonzentrat bei 1200 Grad zu raffinieren, benötigt Aurubis allein für sein Hamburger Werk 650 Gigawattstunden Strom, dazu kommen 550 Gigawattstunden Erdgas. Energie ist nach dem Personal der zweitgrößte Kostenfaktor.
Produziert wird mit Kohlestrom von Vattenfall. Die Überlegung, eigene Windräder aufzustellen, wurde vor einiger Zeit verworfen – zu unwirtschaftlich. Dennoch hat der Konzern seine Emissionen reduziert – durch die immer effizientere Nutzung von Energie im Produktionsprozess. Seit 2000 habe man den CO2-Fußabdruck pro erzeugter Tonne Kupfer um 35 Prozent gesenkt, sagt CEO Roland Harings. Die direkten Emissionen am Standort, die bei der Produktion selbst anfallen, betrugen zuletzt noch etwas mehr als 160000 Tonnen im Jahr.
Auf dem Werksgelände steht die häuserblockgroße Kontaktanlage, in der Schwefelsäure hergestellt wird, ein Nebenprodukt der Kupferproduktion. Die Hitze, die dabei anfällt, wurde lange ungenutzt in die Elbe abgeleitet. Seit Herbst 2018 aber dient die Anlage als Wärmequelle für die nahe Hafencity. Über eine Leitung lassen sich so rund 8000 Vier-Personen-Haushalte mit Heizenergie versorgen. 40 Mio. Euro an Investitionen stecken in Deutschlands größtem Industriewärmeprojekt. „Damit lassen sich etwa 20000 Tonnen CO2 pro Jahr einsparen“, sagt Aurubis-Energiechef Ulf Gehrckens.
Bislang verursacht der Gebäudesektor den größten Teil der Emissionen in Hamburg. Entsprechend hoch ist dort das Einsparpotenzial, genau wie in anderen Großstädten. Allein Aurubis wäre in der Lage, die dreifache Menge an Abwärme auszukoppeln, womit laut Gehrckens insgesamt sogar 140.000 Tonnen CO2 pro Jahr eingespart werden könnten: „Rechnerisch wären wir als Kupferhütte in Hamburg dadurch schon fast klimaneutral.“ Es laufen Gespräche mit der Stadt, der das Fernwärmenetz gehört. Zwar will der Senat auf neue, kohlefreie Wärmequellen umsteigen. Doch am Ende geht es auch um die Abnahmepreise. Für einen Konzern wie Aurubis funktioniert Klimaschutz auf Dauer nur, wenn er auch wirtschaftlich ist.
Die Hoffnung: Wasserstoff
Auch bei einem anderen Thema, auf dem große Hoffnungen liegen, ist die Vernetzung der Sektoren entscheidend: Wasserstoff. Das Gas soll als CO2-freier Brennstoff künftig in großem Stil eingesetzt werden – in der Industrie, zur Speicherung von Energie, als Basis für Treibstoffe. Auch in Hamburg wird an der Technologie geforscht. In einem Großprojekt namens NEW 4.0 haben sich 60 Partner aus Unternehmen, Wissenschaft und Politik zusammengetan, um die Nutzung grüner Energien über Sektorengrenzen hinweg voranzubringen. Das Projekt ist mit 350 Mio. Euro ausgestattet und wird vom Bund gefördert. 500.000 Tonnen CO2 pro Jahr sollen so einmal vermieden werden.
Doch dieses Ziel ist fern. Zwar könnte man heute schon in Teilen der Produktion Erdgas durch Wasserstoff ersetzen, sagt Aurubis-Chef Harings. Aber die Kosten seien „gigantisch“, sechsmal so hoch wie für fossiles Gas. Als Industrie, die im weltweiten Wettbewerb stehe, könne man sich in Deutschland keine höheren Energiekosten leisten.
Zudem nützt Wasserstoff auch nur dann wirklich dem Klimaschutz, wenn er nicht aus fossilem Erdgas gewonnen wird, sondern aus Ökostrom. Für das Hamburger Stahlwerk von ArcelorMittal etwa bedeutet das: Um die Produktion auf grünen Stahl umzustellen, würde es viermal so viel Elektrizität benötigen wie heute. Für die Umstellung der gesamten deutschen Stahlindustrie auf Wasserstofftechnologien würde man nach Schätzungen des Wuppertal-Instituts rund 140 Terawattstunden Ökostrom pro Jahr benötigen – mehr als ein Viertel des gesamten heutigen Strombedarfs in Deutschland. Woher die ganze Elektrizität kommen soll, kann niemand sagen – zumal die Bundesregierung derzeit auf bestem Wege ist, den Ausbau der Windenergie an Land komplett abzuwürgen.
Begrenzte Möglichkeiten
Wie realistisch macht das alles den Hamburger Klimaplan? Kaum ein Experte zweifelt daran, dass die Hanseaten es ernst meinen. Viel Anerkennung gibt es dafür, dass der Senat erstmals nicht nur Zielmarken und Maßnahmen für den CO2-Abbau benennt, sondern dort, wo es möglich ist, auch konkrete Zahlen zum Einsparpotenzial mitliefert. „Das unterscheidet diesen Plan von anderen Klimaschutzplänen, die häufig eher an der Oberfläche bleiben“, sagt Manfred Fischedick vom Wuppertal-Institut. Selbst Grünen-Chef Robert Habeck hält das Konzept für das derzeit beste in Deutschland.
Alle Experten aber lassen die Einschränkung folgen, dass Hamburg die Umsetzung seiner Klimaziele nicht komplett selbst in der Hand hat. Zwar kann der Senat viele seiner 400 Maßnahmen im Alleingang durchsetzen, etwa im Bau- und Verkehrsbereich. Bei wichtigen Stellschrauben aber sind die Möglichkeiten eines Bundeslandes begrenzt. Konkret zeigt sich das beim Thema Strom, dem Dreh- und Angelpunkt der Klimadebatte: Von den sieben Millionen Tonnen CO2, die Hamburg bis 2030 einsparen will, sollen allein drei Millionen durch die Energiewende im Bund zustande kommen.
Alle Sektoren, in denen heute noch Emissionen anfallen, brauchen grüne und günstige Elektrizität. Doch eine Großstadt lässt sich nicht mit Windrädern vollpflastern. Sie ist auf Stromimporte angewiesen – wenn sie ein starker Industriestandort bleiben will. Beim Ausbau der Erneuerbaren aber hat vor allem der Bund das Sagen, der über die Rahmenbedingungen entscheidet. Die „Big Points“ in der Energiepolitik, sagt Klimaökonom Fischedick, würden nicht in Hamburg gemacht, sondern in Berlin und Brüssel.
Eine Modellstadt kann Hamburg trotzdem sein. Der Rest der Republik dürfte genau beobachten, wie das Experiment dort ausgeht.
Der Beitrag ist in Capital 3/2020 erschienen. Interesse an Capital ? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay