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Mittelstand Görtz: Der Kampf um die Füße

Frank Revermann (l.) und Stephan Tendam führen Görtz in die Zukunft
Frank Revermann (l.) und Stephan Tendam führen Görtz in die Zukunft
© Roman Pawlowski
Bei dem Hamburger Traditionsunternehmen Görtz ballen sich die Herausforderungen des digitalen Zeitalters. Vor einigen Jahren stand der Händler mit dem Rücken zur Wand. Heute bläst man zum Angriff

Ein Montagabend in Hamburg, die ersten Männer streifen durch den Görtz-Flagship-Store in der Mönckebergstraße. Mittendrin steht Frank Revermann, hinter ihm, zwischen Holzdielen und Chesterfield-Sofas, die edlen Modelle von Allen Edmonds und Crockett & Jones, vor ihm Regalmeter voller Hausmarken, Timberlands und natürlich: Sneaker. Aber der Görtz-Geschäftsführer starrt in diesem Moment auf sein Handy und ist gedanklich 280 Kilometer östlich, im Upper West am Berliner Ku’damm. Dort hat Görtz heute 16.700 Euro umgesetzt. Zehn Prozent mehr als in der Vorwoche. „Top“, sagt Revermann. „Tagessieger. Aber da geht noch mehr.“

46 Filialen hat Revermann per App im Blick. „Das sieht vielleicht nach einer netten Spielerei aus“, sagt er. „Aber es ist mehr. Wir optimieren damit unseren Personaleinsatz. Und wir merken schnell, wenn es in einem Laden nicht läuft.“ Im Flagship-Store in Hamburgs Innenstadt, einem der Symbole für den Neustart von Görtz, läuft es. Nach anderthalb Jahren Bauphase und Wiedereröffnung im Frühjahr 2016 kommen nicht nur mehr Menschen als zuvor, sie kaufen auch. Die „Conversion Rate“ sei gestiegen, sagt Revermann.

Über 3 Mio. Euro hat Görtz in die Vorzeigefiliale gesteckt: 4000 Quadratmeter, 300 Marken, 5000 Modelle, es ist das größte Schuhgeschäft Europas. Dafür gibt es opulente Beleuchtung, historische Fotos, großzügige Kabinen, hölzerne Schuhleisten an der Wand, vor allem aber viel neue Digitaltechnik: darunter ein „Warenwirtschaftssystem“, ein kleiner, mehrschachtiger Lastenaufzug, mit dem ein Verkäufer jeden Schuh innerhalb weniger Minuten mit einem smartphonegroßen Gerät aus dem Lager liefern kann. Das Ziel: keine schwitzenden Verkäufer mehr, die irgendwo hinten in Lagern verschwinden und Kunden allein lassen.

„Kaufen macht glücklich, Verkaufen erst recht“ ist das Mantra von Revermann. Am nächsten Tag will er beim Führungskräftetreffen in Hamburg alle wieder darauf einschwören. Da geht es um Grundlagen, die Ansprache zum Kunden („Weil man es immer noch sagen muss!“), um die neue Herbst/Winter-Kollektion 2019, aber auch eine bessere Verknüpfung von On- und Offlinehandel. Zur Krönung küren sie einen Sieger: Deutschlands besten Filialleiter und die besten Verkäuferteams.

Den Tod vor Augen

Seit knapp drei Jahren ist Revermann, ein zugänglicher Typ, der barfuß in seinen sandfarbenen Edelsneakern geht, Geschäftsführer bei Görtz. Sein Job: gemeinsam mit seinem Co-Geschäftsführer Stephan Tendam, der die Finanzen verantwortet, das traditionsreiche Familienunternehmen ins digitale Zeitalter hieven. Ein hartes, umkämpftes Zeitalter, voll von Verdrängung, Schieflagen, Pleiten, Zalando, Amazon und Folien, auf denen Omni-, Cross- oder Multichannel steht.

Für Revermann sind das keine neuen Themen: Zwölf Jahre war er bei der Damenmodekette Bonita, davor lange bei C&A. Stephan Tendam hat Görtz von dem Online-Tierspezialisten Fressnapf abgeworben. Tendam, ein nüchterner Mann mit roten Haaren und braunen Wildlederschuhen, soll dafür sorgen, dass bei Görtz nachhaltig Geld verdient wird. Denn auch damit gab es bei den Hanseaten Probleme, da ging es auch mal mehr um Umsatz als Gewinn, was Tendam schonungslos bereits im dritten Satz bekennt. Ein angriffslustiges Duo also, das sich mit Händen und Füßen, on- wie offline wehrt, den Tod im Einzelhandel zu sterben.

Görtz ist ein „Mädelsladen“ – ohne Frauen läuft im Schuhgeschäft nur wenig
Görtz ist ein „Mädelsladen“ – ohne Frauen läuft im Schuhgeschäft nur wenig
© ©Roman Pawlowski

Von seinem Büro hat Revermann diesen Tod jeden Tag vor Augen: Schräg gegenüber vom Görtz-Flagship-Store steht ein verwaistes Schuhhaus. Bis 2017 hat hier das Elsner-Schuhhaus, gegründet 1887 und damit nur zwölf Jahre jünger als Görtz, auf 1000 Quadratmetern Schuhe angeboten. Während Görtz auf der anderen Straßenseite im neu- en Flagship-Glanz erstrahlte, gab der Nachbar auf. Seit 1999 gehört Elsner zur Leiser-Gruppe, die Insolvenz angemeldet hat und sich zum zweiten Mal seit 2012 restrukturieren muss. Solche Nachrichten kennt die Branche seit Jahren.

Seit 2011 haben rund 1000 stationäre Schuhhändler aufgegeben, die Zahl schrumpfte von über 4.800 auf 3.800, heißt es im „Schuhreport 2018“, den das Institut für Handelsforschung (IFH) in Köln herausgibt. „Der Konzentrationsprozess im traditionellen Schuhfachhandel wird sich noch zuspitzen“, prophezeit Hansjürgen Heinick, Handelsexperte beim IFH. Denn Internethändler wie Amazon oder Zalando verkaufen inzwischen fast ein Fünftel aller Schuhe. Der Onlineanteil am Gesamtmarkt hat sich seit 2011 mehr als verdoppelt. Während die Umsätze in den Schuhfachgeschäften auf 6,2 Mrd. Euro gesunken sind, liegen sie im Netz bei mehr als 2 Mrd. Euro und steigen weiter. Zudem stellen Modeketten wie H&M, Zara oder Primark immer mehr eigene Schuhkollektionen in ihre Läden. Schuhe und Einzelhandel: Es ist ein harter, unruhiger Markt, der Disruption in jeder Naht und Faser spürt.

„In unserem Markt herrscht seit Jahren purer Verdrängungswettbewerb“, sagt Stephan Tendam. Einige Große haben es geschafft: Die Deichmann-Gruppe etwa, die seit Jahren wächst, 2017 um knapp sechs Prozent auf weltweit 5,8 Mrd. Euro Umsatz. Die Kleinen verschwinden, viele mittelgroßen Ketten, wie Reno oder Leiser, waren in Schieflage oder mussten Investoren an Bord holen. Und deshalb kann Tendam seine Strategie für die Zukunft von Görtz auch in wenige knackige Worte packen: „Es wird ein Kampf. Last man standing. Und wir nehmen den Kampf auf.“

Auch die Hamburger Kette, deren Gründer einst als „Schuhkönig von Hamburg“ galt, war vor ein paar Jahren in Bedrängnis geraten. Wer auf die Umsätze schaut, wird zunächst stutzen – denn die kletterten ab 2008, dem Jahr der Zalando-Geburt und der Finanzkrise, stark an, von 290 auf knapp 390 Mio. Euro im Jahr 2011. Eine Scheinblüte, denn Görtz rutschte damals in die roten Zahlen, hatte sich mit einer Investition in der Schweiz – 60 Filialen der Kette Pasito-Fricker – verhoben, war zu aggressiv expandiert, hatte die Zentrale aufgebläht. Die Folge: Diese wohl entscheidenden Jahre für die Schlacht im Internet war Görtz mit sich selbst beschäftigt.

Very Important Feet

Görtz musste reagieren – und sich sanieren. Man entließ den Geschäftsführer, schloss unterm Strich 45 von 205 Filialen und stieß die Tochterfirma wieder ab. Außerdem holte Ludwig Görtz, Urenkel des Gründers, 2014 den Münchener Finanzinvestor Afinum an Bord, der für 20 Mio. Euro 40 Prozent der Anteile erhielt. Ludwig Görtz senior, der im Verwaltungsrat sitzt, erinnert sich gut an die turbulente Zeit. Aber bedrohlich? Nein, so habe er die Situation nie empfunden. Der fast 84-Jährige kommt auch heute noch täglich um 7 Uhr ins Büro, ein höflicher Hanseat, hellwach, präsent. „An der Digitalisierung lag unsere Krise nicht“ sagt Görtz. „Die haben wir nicht verschlafen, wie so oft behauptet wird.“

Tatsächlich war Görtz oft früh dran. Schon 1999 ging das Familienunternehmen mit einer eigenen Homepage online. Daraus entwickelte sich 2003 der erste Internetshop, lange bevor Zalando den ersten Schuh im Netz verkaufte. „Wir haben schon immer gerne Neues ausprobiert“, erzählt Görtz, der zwischendurch kurz seine Whatsapp checkt und Instagram nicht für eine neue Schuhmarke hält. Schon in den 50er-Jahren reiste er nach New York, um dort einen IBM-Computer zu kaufen, statt auf Karteikarten speicherte er Kundendaten auf gestanzten Lochkarten, 1995 hatte er zwei Millionen Kundenkarten, genannt „VIF“, für „Very Important Feet“. „Ich habe das Internet von Anfang an als Chance begriffen“, sagt Görtz und erzählt sofort von seiner Idee, Sprachassistenten wie Alexa und Siri zu nutzen. „Die Kunden könnten fragen, ob ihre Lieblingsverkäuferin im Geschäft ist.“ Auch Touchscreens fände er gut, die könnten Extrainfos zum Schuh zeigen. Keine Frage: Herr Görtz hätte da noch einiges auf Lager.

2,2 Millionen Paar Schuhe auf Lager, 160 Filialen in 100 Städten, ein Zentrallager in Norderstedt und einen Onlineshop mit 12.000 Modellen – den Görtz seit 2015 wieder selbst betreibt, statt ihn outzusourcen – umfasst das Görtz-Universum heute. Reicht das für „Last Man Standing?“

Die Umsätze stagnieren seit einigen Jahren, lagen 2016 – aktuellere Zahlen gibt es nicht – bei 267 Mio. Euro. Der Gewinn war mit 2,4 Mio. Euro mikroskopisch. Doch immerhin: Görtz verbrennt kein Geld mehr, hat Schulden getilgt und aufgeräumt. Und die Hamburger investieren, allein dieses Jahr 7,5 Mio. Euro, über die Hälfte davon in die IT. Mit spürbarem Effekt: Die Onlineverkäufe legten 2017 um 30 Prozent zu, machen nun 13 Prozent des Umsatzes aus. 2016 waren es noch 8,4 Prozent. Und: Online ist profitabel.

Görtz führt eine Art Doppelangriff in analoger und digitaler Welt: Die Kette eröffnet Flaggschiff-Filialen – und baut online aus. Und verzahnt beides. „On- und offline sind für uns kommunizierende Röhren“, sagt Tendam. Bei „Check & Reserve“ etwa könne der Kunde im Onlineshop schauen und reservieren, um die Schuhe dann in einer Filiale an- zuprobieren. Und natürlich setzt auch Görtz auf alles, was modern ist, auf Influencer, Fashion-Blogger mit „Pick Collections“ oder Aktionen, bei denen die ersten 100 Kunden, die barfuß kommen, ein Paar Schuh ihrer Wahl bekommen. Angebote wie „Check & Reserve“ würden besser genutzt als gedacht, sagt Tendam. Für Görtz gehen so die teuren Retouren zurück, die Marge steigt, und manche Kunden kaufen gleich noch ein Paar Schuhe mehr. Ein anderes Beispiel: Künftig werden in den Filialen auch Pakete für Onlinebestellungen geschnürt, auch das reduziert Kosten und beschleunigt den Weg zum Kunden. Görtz will mit dieser Strategie den Umsatz bis 2021 auf 300 Mio. Euro steigern.

Ob das klappt?

Handelsexperte Gerrit Heinemann ist skeptisch: „Das Drama für einen Schuhhändler wie Görtz ist, dass Amazon und Zalando online immer besser sind, ihr Sortiment ist größer, die Bestellabwicklung erprobter, die Kundenakquise aggressiver. Wenn Görtz mit seinem Onlineshop nicht baden gehen will, müssen sie deutlich mehr investieren.“ Die Hamburger wollen sich damit nicht abfinden. „Wir differen-zieren uns durch unser Sortiment“, sagt Ludwig Görtz. Man bediene das Mittel- und Premiumsegment, keine Masse. „Bei Görtz weiß der Kunde, was er bekommt.“ Eine kuratierte Auswahl von 12 000 Modellen.

Klar, ergänzt Stephan Tendam, Amazon und Zalando seien Giganten. „Aber wenn dann ein Anbieter wie About You kommt und besser ist, kann sich das Spiel schnell wieder drehen.“ Der Kampf im Netz, so die Botschaft aus Hamburg, ist nicht vorbei. Er geht einfach weiter. In Revermanns Arbeitszimmer hängt eine Deutschlandkarte an der Wand, der Manager hat mit roten, blauen, gelben Pins markiert, wo Görtz Flagship-Stores, normale Filialen oder Görtz 17 (die junge Linie) hat. Die Karte erzählt auch die Geschichte von Görtz: die Hamburger Keimzelle, die Expansion in andere Städte, die neuen Cluster rund um Städte wie München oder Frankfurt. Ein paar weiße Flecken wollen sie noch besetzen. Revermann springt zur Wand und tippt auf die Stadt Mainz. „Da haben wir gerade eine neue Filiale eröffnet.“

Wie elementar das Geschäft in den Filialen ist, hat Revermann der Belegschaft gleich zu Anfang eingebläut. 40 Görtz-Filialen hatte er inkognito besucht, und „in keiner hat mir jemand Guten Tag gesagt“. Flugs ließ der Vertriebsprofi die Minifibel „Der rote Faden“ wiederauflegen – ein Art Knigge im Umgang mit dem Kunden. „Ich beachte und begrüße jeden Kunden“ heißt die Top-1-Service-Regel. Manche wichtigen Dinge ändern sich eben nie.

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