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Kommentar Für den Kalten Krieg ist Russland zu schwach

Die Annehmlichkeiten des Westens genießen und gleichzeitig Kalte-Kriegs-Rhetorik anschlagen - das geht nicht mehr. Von Gideon Rachman
Ein russischer Soldat richtet seine Waffe gegen eine Gruppe Ukrainer
Ein russischer Soldat richtet seine Waffe gegen eine Gruppe Ukrainer
© Getty Images

Als die Sowjetunion 1968 in der Tschechoslowakei einmarschierte, fiel der Moskauer Aktienmarkt nicht. Damals gab es noch keinen Moskauer Aktienmarkt. Heute dagegen verursacht die Nachricht, dass Russland de facto die Krim kontrolliert, einen zehnprozentigen Absturz der russischen Leitbörse.

Der Unterschied zwischen 1968 und heute unterstreicht, warum das Gerede von einem „neuen Kalten Krieg“ irreführend ist. Der wirtschaftliche und politische Kontext der Krim-Krise 2014 ist komplett anders als bei der Niederschlagung des Prager Frühlings. Russland hat kein Riesenreich mehr, das sich bis Berlin erstreckt. Der Schmerz über diesen Verlust ist ein wichtiger Grund, warum Präsident Wladimir Putin alles daran setzt, die Ukraine in Moskaus beschnittenem Einflussbereich zu halten.

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Gideon Rachman ist Kolumnist der Financial Times

Genauso wichtig ist: Die Welt ist nicht mehr geteilt in zwei feindliche Blöcke – den kapitalistischen Westen und den kommunistischen Osten. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ist Russland der globalen kapitalistischen Ordnung beigetreten. Die Finanz-, Geschäfts- und Gesellschaftssysteme Russlands und des Westens sind heute eng miteinander verflochten. Zwar haben wir einen neuen Ost-West-Konflikt, aber dieser findet unter komplett anderen Vorzeichen und Regeln statt als im Kalten Krieg.

Intervention hat einen wirtschaftlichen Preis

Der Kreml mag annehmen, dass sich die Geschäftsbeziehungen des Westens mit Russland zum Vorteil auswirken. Als ehemaliger KGB-Agent glaubt Putin wahrscheinlich immer noch die alte Sowjet-Maxime, dass die Außenpolitik des Westens von Kapitalisten diktiert wird und dass diese eine Gefährdung ihrer finanziellen Interessen in Russland nicht erlauben werden. Die schwächliche westliche Reaktion auf die russische Intervention in Georgien im Jahr 2008 mag diesen Eindruck verstärkt haben. Ben Judah, Autor eines kürzlich erschienenen Buchs über Russland, argumentiert, dass die Begeisterung, mit der sich westliche Geschäftsleute und ehemalige Politiker in Geschäfte mit Russland stürzen, Putin „sehr zuversichtlich gemacht hat, dass die europäischen Eliten sich mehr für Profite interessieren als dafür, ihn in Schach zu halten“.

Doch als Judoka sollte Putin wissen, dass ein plötzlicher Gewichtswechsel aus einer vermeintlichen Stärke eine Schwäche machen kann. Die gegenseitigen Abhängigkeiten der russischen und westlichen Volkswirtschaften bedeuten, dass Schurkereien des Kremls wie auf der Krim einen unmittelbaren wirtschaftlichen Preis für Russland bedeuten. Der erste Teil dieser Kosten war an der Moskauer Börse sichtbar, als die Aktien von Gazprom und Sberbank, die beide über enge Verbindungen zum Kreml verfügen, um je rund zehn Prozent fielen.

Wirtschaftliche Sanktionen oder Visabeschränkungen für Mitglieder der russischen Elite würden diese Kosten weiter steigern. Für reiche Russen ist es heute selbstverständlich, übers Wochenende mal eben nach London oder Paris zu jetten. Milliarden Dollar russischer Herkunft sind in westlichen Banken geparkt oder in europäische Immobilien investiert.

Einreiseverbote sind möglich

Die russische Zentralbank schätzt hochoffiziell, dass zwei Drittel der 56 Mrd. Dollar, die im Jahr 2012 aus Russland abgezogen wurden, Profite aus kriminellen Aktivitäten waren. Eigentlich müssten diese Früchte der Korruption leicht einzufrieren sein. Allerdings sind die Londoner City und die Schweizer Behörden im besonderen bislang nicht durch großen Eifer aufgefallen, die Herkunft der russischen Reichtümer zu hinterfragen. Man könnte diese Fragen nun ein bisschen dringlicher stellen.

Auch von Putin selbst wird seit langem vermutet, dass er Milliarden irgendwo im Westen eingelagert hat. Wahrscheinlich rührt nicht sein gesamter Wohlstand aus dem Ersparten seines Kreml-Gehalts. Wenn westliche Geheimdienste ihren Namen verdienen, sollten sie wissen, wo dieses Geld ist.

Einreiseverbote für einen erweiterten Kreis von Russen, die in die Militäraktion in der Ukraine verwickelt sind, wären sicherlich möglich – wodurch sie ihre in Europa aufgehäuften Besitztümer und Vermögen nicht mehr genießen könnten. Als Präzedenzfall könnte hier die „Magnitsky-Liste“ der USA dienen – die Einreiseverbote für russische Beamte vorsieht, die am Mord des Anwalts Sergei Magnitsky beteiligt waren.

Natürlich würden die Gesamtkosten beide Seiten treffen. Die offenste Flanke des Westens ist die Abhängigkeit von russischer Energie. Europäische Politiker gruseln sich vor der Vorstellung, dass in europäische Haushalte frieren müssen, weil Russland den Gashahn zugedreht hat. Doch selbst hier ist die europäische Verwundbarkeit durch einen russischen Energiegegenschlag wohl überzogen.

Russland muss seine Energie im Ausland verkaufen. 70 Prozent seiner Exporte bestehen aus Öl und Gas. Diese Erlöse sind von enormer Bedeutung für den Staat. Auch während des Kalten Kriegs war der Verkauf russischer Energie nach Europa trotzt aller politischer Differenzen gewährleistet.

Diplomatische Lösung ist noch möglich

Die Nachfrage nach russischem Gas ist allerdings in den letzten zehn Jahren deutlich geschrumpft, nicht zuletzt durch den Aufschwung bei den erneuerbaren Energien. Auch amerikanisches Schiefergas kann hier eine Alternative sein.

Mit viel Glück wird sich die russische Regierung selbst jetzt noch zu einer Korrektur des eingeschlagenen Pfads durchringen. Es gibt noch die Möglichkeit für eine diplomatische Lösung: Rückzug der russischen Truppen im Gegenzug für garantierte kulturelle und politische Rechte der russischen Bevölkerung.

Zur Zeit erscheint es allerdings wahrscheinlicher, dass Russland entschlossen ist, die Krim zu behalten – und noch Teile der Ostukraine hinzuschlägt. US-Präsident Barack Obama und die EU haben recht schnell eine militärische Antwort ausgeschlossen, was richtig war. Allerdings hat der Westen noch jede Menge wirtschaftliche Werkzeuge, die Russland das Leben erschweren können.

Im letzten Jahrzehnt haben Präsident Putin und seine Leute oft die Rhetorik des Kalten Kriegs verwendet, während sie von den Früchten der Globalisierung profitierten. Jetzt sollten sie vor die Wahl gestellt werden: Sie können einen neuen Kalten Krieg haben – oder Zugang zu den Annehmlichkeiten des Westens. Nicht mehr beides.

© 2014 The Financial Times Limited

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