Anzeige

Kommentar Freier Handel und teure Liebe

Freihandel bedeutet Wohlstand - in Form von Geld definiert. Übernehmen wir diese Denkweise, betrachten wir Zeit, die wir mit Freunden oder der Liebsten verbringen, als „Opportunitätskosten“. Von Robert Skidelsky
Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Warwick University
Robert Skidelsky, Mitglied des britischen House of Lords, ist emeritierter Professor für Wirtschaftspolitik an der Warwick University
© Getty Images

Die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation, die im Dezember auf Bali stattfand, endete mit einem bescheidenen Förderpaket für den Welthandel. Anders als in den 1920er- und 1930er-Jahren, als Protektionismus zu einer Vertiefung und Ausweitung der Weltwirtschaftskrise führte, hat sich der multilaterale Ansatz der WTO im weitesten Sinne bewährt, weil eine massive Errichtung weiterer Handelsschranken verhindert wurde. Doch die wichtigste Frage – ob Globalisierung eine gute Sache ist und für wen – bleibt unbeantwortet.

Das wesentliche Element der Globalisierung – freier Handel – beruht auf der Theorie des komparativen Kostenvorteils, die internationalen Handel sogar für ein Land als gewinnbringend betrachtet, das alle Güter (bezogen auf Arbeit oder alle eingesetzten Ressourcen) billiger produzieren kann als alle anderen Länder.

Nobelpreisträger Paul Samuelson führt als Paradebeispiel den besten Rechtsanwalt einer Stadt an, der zugleich die beste Schreibkraft vor Ort ist. Vorausgesetzt, dass er sich besser auf die Juristerei versteht als auf das Tippen, sollte er sich auf seine Anwaltstätigkeit spezialisieren und das Maschineschreiben seiner Sekretärin überlassen. Auf diese Weise werden beide ein höheres Einkommen erzielen.

Theorie des komparativen Kostenvorteils

Die gleiche Logik gilt auch für Länder. Jedes Land sollte sich auf die Produktion der Dinge spezialisieren, die es am effizientesten produziert, statt von allem etwas herzustellen, da es auf diese Weise höhere Einnahmen erzielen wird.

Für Ökonomen ist das Verständnis der Theorie des komparativen Kostenvorteils ein Maßstab für fachliche Kompetenz. Aber sind die Inkompetenten unter uns – sagen wir der Durchschnittsmensch, der glaubt, dass billige Importe aus China Arbeitsplätze im Westen vernichten – immer im Unrecht?

Samuelson, der die Theorie des komparativen Kostenvorteils einst als schönste Sache an den Wirtschaftswissenschaften bezeichnete, hat seine Einstellung gegen Ende seines Lebens geändert. Freier Handel, so Samuelson, funktioniert gut, solange es keine technologischen Veränderungen gibt. Wenn jedoch Länder wie China westliche Technologien mit niedrigen Löhnen kombinieren, wird der Handel mit China die Löhne im Westen sinken lassen. Der Westen wird seine Güter zwar billiger bekommen, doch „bei Wal-Mart Lebensmittel 20 Prozent billiger einkaufen zu können reicht nicht notwendigerweise aus, um die Lohnverluste auszugleichen“, wie Samuelson es ausdrückte.

Er hätte auch noch hinzufügen können, dass die Möglichkeit, Waren billiger einzukaufen auch viele andere gute Dinge im Leben nicht aufwiegen würde, die der Effizienz geopfert werden. Das Argument für den Freihandel ist ein Argument für Wohlergehen, allerdings für ein Wohlergehen, das ausschließlich finanziell definiert wird. Zeit ist Geld: Je mehr Geld man aus einer Stunde Arbeit herausholen kann, desto besser gestellt ist man finanziell. Aber was ist mit all den Dingen, an denen ein Mensch Vergnügen findet oder die er für wertvoll erachtet, die das eigene Einkommen jedoch nicht maximieren?

Verschwendete Zeit, entgangene Erlöse

Der Ökonom antwortet, dass wir für diese anderen Dinge umso mehr Zeit übrig haben, je effizienter wir unsere Arbeit verrichte. Das Problem ist, dass wir eher dazu neigen Zeit, die wir mit Freunden oder mit der Liebsten im Bett verbringen als „Opportunitätskosten“ zu betrachten – als entgangene Erlöse also, weil die Zeit nicht zum Arbeiten genutzt wurde – und nicht als Gewinn, je mehr wir beginnen, das eigene Wohlergehen unter dem finanziellen Aspekt zu betrachten.

In armen Ländern, in denen vertane Zeit zum Hungertod führen kann, ist es ein sinnvolles Ziel, so viel Geld wie möglich aus Zeit herauszuholen. Sinn und Zweck der wirtschaftlichen Entwicklung ist es ja, die Kosten der Ineffizienz zu senken. Nur versuchen Ökonomen, die nicht bemerken, dass sich ihre Logik auf reiche Länder weniger gut anwenden lässt, diese auf mehr und mehr Lebensbereiche auszuweiten.

Das so genannte „Life Outsourcing“ stellt ein neueres, einträgliches Forschungsfeld dar. Jemand anderen dafür zu bezahlen, die eigenen Socken zusammenzulegen ist eine Möglichkeit, die eigenen Einnahmen und die des Socken-Zusammenlegers zu maximieren. Sogar als mittellose Studenten haben sich die Wirtschaftswissenschaftler Jon Steinsson und Emi Nakamura Geld geliehen, um Arbeiten im Haushalt von anderen Leuten erledigen lassen zu können. Die Überlegung dabei war, dass „eine zusätzliche Stunde Arbeit an einem wissenschaftlichen Aufsatz besser für ihr zu erwartendes Lebenseinkommen wäre als die gleiche Stunde mit Staubsaugen zu verbringen“.

Zeit - Kostenfaktor oder Nutzen?

Die Wirtschaftswissenschaftler Betsey Stevenson und Justin Wolfers, Vorreiter der „lovenomics“ (deutsch: Ökonomie der Liebe), führen Steuergesetze als Grund an, warum sie unverheiratet geblieben sind. Auch haben sie eine Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt, bevor sie ein Kind bekommen haben. Wolfers erklärt es folgendermaßen:

„Das Prinzip des komparativen Kostenvorteils sagt uns, dass die Vorteile aus einem Handel am größten sind, wenn der Handelspartner über Fähigkeiten und Ausstattungen verfügt, die sich von den eigenen deutlich unterscheiden. Ich bin ein unpraktisch veranlagter Bücherwurm mit Harvard-Abschluss, der im Bereich Arbeitsökonomie forscht, während Betsey ein unpraktisch veranlagter Bücherwurm mit Harvard-Abschluss ist, der im Bereich Arbeitsökonomie forscht. Sind die Fähigkeiten so ähnlich, sind die Vorteile eines Handels nicht besonders groß. Außer wenn es darum geht, unser Baby aufzuziehen. In dem Bereich verfügt Betsey, nun ja, über ein Paar Produktionsfaktoren, mit denen sie mir eindeutig überlegen ist. Und das bedeutet, dass mir der Output überlassen bleibt.“

Betsey Stevenson fügt freundlicherweise erklärend hinzu, dass „sich gezeigt hat, dass Väter ziemlich gut mit vollen Windeln zurechtkommen.“

An diesem Punkt reagieren die ökonomisch Ungebildeten vermutlich allmählich unwirsch. Sie könnten einwenden: „Ich erfreue mich an vielen Dingen, die meine Ertragskraft nicht maximieren.“ Doch sobald wir die Prämisse akzeptieren, dass es rational ist, eine Maximierung des eigenen Nutzens anzustreben – definiert in Form von Konsum, der sich mittels Geld maximieren lässt – siegt die Logik der Wirtschaftswissenschaftler.

An diesem Punkt müssen wir zugeben, dass es irrational ist, Zeit für lange Gespräche mit Freunden zu verwenden, wenn diese Zeit davon abgeht, sagen wir mal, neue Software zu erfinden (es sei denn, das Gespräch trägt zur Erfindung bei). Für Justin Wolfers ist es Zufall, dass das, womit er meisten Geld verdient, die Wirtschaftswissenschaften, zugleich das ist, was ihm am meisten Spaß macht.

Aus derartigen Gedankengängen lassen sich gegensätzliche Weltanschauungen herauskristallisieren. Einer Auffassung zufolge ist Zeit ein Kostenfaktor; der anderen zufolge ein Nutzen. Erstere betrachtet Zeit, die mit Vergnügen verbracht wird, als entgangenen Gewinn; die andere als Bestandteil eines guten Lebens. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, was bei der Entscheidung zwischen beiden auf dem Spiel steht.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

Copyright: Project Syndicate, 2014.
 www.project-syndicate.org

Neueste Artikel