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Kommentar Europas digitale Reaktionäre

In Europa wird zu viel über die Regulierung des Internets geredet. Es muss von seinen Fesseln befreit werden. Von James Waterworth

Viele europäische Politiker singen ein Loblied auf das Internet. Leider klingt ihre feierliche Rhetorik oft hohl. Dieselben Politiker, die eine starke digitale Agenda einfordern, argumentieren im gleichen Atemzug und unterstützt durch protektionistische Interessen zuhause, das Internet brauche strengere Regeln.

Dieser Doppelstandard verwirrt. Wenn Europa im 21. Jahrhundert gedeihen soll, müssen seine gerade neu gewählten Repräsentanten eine positive, konkrete Internet-Agenda verfolgen. Das bedeutet die Unterzeichnung von digitalen Freihandelsabkommen und die Schaffung eines digitalen europäischen Binnenmarktes aus den heutigen 28 nationalstaatlichen Regelungen. Uralte Urheberrechts- und Lizenzgesetze müssen modernisiert werden. Neue Datenschutzregeln müssen die Bürger schützen und gleichzeitig Innovationen fördern, Forderungen nach obligatorischer Datenlokalisierung und lokalen „Internetversionen“ müssen ins Leere laufen.

James Waterworth ist Vizepräsident des Verbands der Computer- und Kommunikationsindustrie
James Waterworth ist Vizepräsident des Verbands der Computer- und Kommunikationsindustrie

Wird das konsequent umgesetzt, könnte diese substanzielle Digitalagenda für das sorgen, was Europa nach der Finanzkrise am dringendsten braucht: Wirtschaftswachstum. Laut der Industrieländerorganisation OECD entfällt heute bis zu 13 Prozent der Wirtschaftsleistung in den USA auf das Internet. Inzwischen ist jedes Unternehmen vom digitalen Handel abhängig. Mit ein paar Klicks sind kleine Firmen, die polnische Antiquitäten, bayerische Dirndls oder spanische Schuhe verkaufen, aus ihren Heimatmärkten ausgebrochen und haben Kunden in der ganzen Welt erreicht.

Zu viele Hindernisse

Durch die Nutzung des Internetpotenzials kann das finanziell klamme Europa neue Jobs schaffen, ohne neue Schulden aufzunehmen. Zahlen der Europäischen Kommission legen nahe, dass die Zahl der Beschäftigten in der so genannten „App-Ökonomie“ in Europa von 1,8 Millionen 2013 auf 4,8 Millionen 2018 ansteigen wird. Die Umsätze werden sich mit 63 Mrd. Euro mehr als verdreifachen. Wir wissen auch, dass bis 2020 für 90 Prozent aller Jobs Kenntnisse in den Informations- und Kommunikationstechnologien Voraussetzung sind.

Ein derartiger Erfolg verlangt, dass die etablierten Marktteilnehmer in Europa ihren Widerstand aufgeben und Neuzugänge willkommen heißen, anstatt sich gegen sie zu sperren. Nach den aktuellen, fragmentierten EU-Regelungen müssen Unternehmen für den Verkauf in jedem einzelnen der 28 Mitgliedsstaaten separate Genehmigungen einholen. Sogar große Unternehmen wie Apple und Google müssen Jahre arbeiten, um lokale Shops aufzubauen und neue Angebote auf den Markt zu bringen. Das bremst das Wachstum kleiner europäischer Innovatoren wie Spotify. Viele neue Dienstleistungen, die es uns erlauben, alles von Taxifahrten bis hin zu Designerkleidern aus zweiter Hand zu tauschen, zu mieten und gemeinsam zu nutzen, haben es sehr schwer sich zu etablieren.

Internetskeptiker könnten auch potenziell zukunftsweisende Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen behindern, die im vergangenen Jahr mit großem Tamtam begannen. Ein ständig wachsendes Handelsvolumen wird in Bits und Bytes im Internet abgewickelt. Eine neue Studie von McKinsey kam zu dem Schluss, dass wissensbasierte Digitalwaren heute ganze 50 Prozent des globalen grenzüberschreitenden Handels ausmachen - und mindestens 1,3 mal so schnell wachsen wie andere Arten des Handels. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, könnte sich das Volumen dieser Waren bis 2025 verdreifachen.

Gefährliches „Recht auf Vergessen“

Und doch sind viele Europäer für die Einführung drakonischer Datenschutz- und Datenlokalisierungsregeln, als Voraussetzung für die Zustimmung zu einem neuen, wie auch immer geartetem Freihandelsabkommen. Derartige Voraussetzungen stünden in krassem Wiederspruch zu den Grundprinzipien des Internets: reibungsloser, grenzenloser Zugang zu Informationen. Wie Russland und China wäre Europa vom Rest des globalen Internets abgeschnitten, weil neue Dienstleistungen keine Chance bekämen.

In diesem Zusammenhang stellt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das ein “Recht auf Vergessen“ anerkennt und Google zwingt, Suchinformationen – auch legale - auf Nachfrage zu entfernen, eine erheblich Gefahr dar. Indem wir jeden Suchdienst, einschließlich der Universitätsbibliotheken, dazu zwingen, die Suche nach legalen Informationen zu erschweren, riskieren wir, einer groß angelegten privaten Zensur Tür und Tor zu öffnen.

Derartige unbeabsichtigte Folgen durchdringen auch das EU-Wettbewerbsrecht. Europäische Politiker denken über eine Regulierung nach, die von Internetportalen wie App-Stores, sozialen Netzwerken, Suchmaschinen und kommerziellen Seiten verlangen, bestimmte öffentlich festgelegte Kriterien einzuhalten, um wirtschaftliche, soziale oder politische Zwecke zu erfüllen. Eine solche Regulierung, so heißt es, würde das Entstehen europäischer Internetplattformen begünstigen und den Nutzern einen „offenen Zugang“ ermöglichen.

Tatsächlich könnten diese Bestrebungen neue Hindernisse für den Marktzugang und die Etablierung von Marktführern bedeuten sowie Innovationen untergraben. Internetmärkte sind von einem dramatischen Wandel geprägt. Facebook hat MySpace als das maßgebliche soziale Netzwerk in kürzester Zeit überholt, Apple hat den Markt für Smartphones revolutioniert - und ständig entstehen neue Dienstleistungen und Märkte. Twitter hat niemanden verdrängt, sondern ergänzt alle anderen Kommunikationsarten und konkurriert mit ihnen.

Europa muss sich beeilen

Die EU-Wettbewerbsuntersuchungen dagegen ziehen sich immer weiter in die Länge. Es hat zehn Jahre gedauert bis zu einer Einigung mit Microsoft - bei Google kann genauso viel Zeit vergehen. Bis dahin kann sich das schnell wandelnde Internetumfeld vielleicht bis zur Unkenntlichkeit verändert haben.

Europäische Behörden sollten dem digitalen Prozess keine Fesseln anlegen. Europäische Verbraucher sollten online Lieder kaufen, Videos anschauen und alle Produkte einkaufen können, die sie einkaufen möchten, und die europäischen Unternehmen sollten die Chancen des riesigen EU-Marktes voll ausnutzen können. Das Internet voll auszuschöpfen ist nicht nur unternehmerisch sinnvoll, vielleicht trägt es auch dazu bei, das schwindende Vertrauen der Wähler in das europäische Projekt zurückzugewinnen.

Aus dem Englischen von Eva Göllner

Copyright: Project Syndicate, 2014.
 www.project-syndicate.org

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