Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass Europa einmal zu viel Gas haben würde statt zu wenig? Doch so ist es aktuell: Die Speicher der EU füllen sich zurzeit in einem solchen Rekordtempo, dass mancher Entscheidungsträger in Brüssel schon das Ende der Abhängigkeit von Russland für gekommen hält.
Bei rund 56 Prozent lag der Speicherstand in den EU-Ländern Ende März laut dem Industrieverband Gas Infrastructure Europe, in dem sich die Speicherbetreiber der EU-Länder organisiert haben. Das ist das höchste Niveau für diese Jahreszeit seit mindestens 2011. Und fast 30 Prozent mehr als noch vor einem Jahr zur selben Zeit.
Die Sparsamkeit der Verbraucher und der Bau neuer LNG-Terminals hat sich also ausgezahlt. Vor allem Deutschland steht gut da: Hierzulande sind die Speicher, mit rund 250 Terawattstunden die größten in der gesamten EU, sogar noch zu 64 Prozent gefüllt. Nur in Dänemark (72,3 Prozent), Kroatien (75,6 Prozent), Bulgarien (77,5 Prozent), Spanien (78,2 Prozent) und Portugal (95,5 Prozent) sieht es noch besser aus.
„Es sieht so aus, als ob Europa in diesem Sommer eher zu viel Gas haben wird als andersherum“, sagt Natasha Fielding vom Datenlieferanten Argus Media der „Financial Times“ (FT). Als Reaktion auf Putins Einmarsch in die Ukraine hat sich die EU zum Ziel gesetzt, dass die Gasspeicher bis zum Wintereinbruch zu 90 Prozent gefüllt sein müssen. Laut Fielding könnte sie dieses Ziel nun schon im Juli oder August erreichen.
Putins Werk und Bidens Beitrag
Die Bürokraten in Brüssel machen deswegen schon Freudensprünge: „Die Gasspeicher der EU sind mehr als halb voll, deshalb beenden wir diese Heizperiode in einer komfortablen Lage“, sagte EU-Energiekommissarin Kadri Simson der FT. „Indem wir den Anteil der Erneuerbaren hochfahren und unsere Lieferquellen weiter diversifizieren, wird die vollständige Abkehr von russischem Flüssiggas (LNG) für einige Mitgliedsstaaten möglich.“
Die derzeitige Gasschwemme ist das Resultat eines kalten Entzugs von Moskau. Die Ironie dabei ist nur: Trotz Lieferstopps hängt Europa immer noch am Tropf des Kreml. Seit Putin seine Pipelines in den Westen zugedreht hat, importiert Europa russisches Gas einfach auf anderem Weg: in flüssiger Form, als LNG. Laut dem Datenanbieter Refinitiv stiegen die russischen LNG-Importe der EU im vergangenen Jahr trotz Ukraine-Krieg drastisch um fast 40 Prozent.
Das sind die größten LNG-Terminals der Welt
Zwar hat sich die Abhängigkeit von Moskau seit dem erzwungenen Umstieg auf russisches Flüssiggas insgesamt mehr als halbiert: Laut Eurostat kamen 2022 nur noch etwas mehr als ein Fünftel aller EU-Gasimporte (Pipeline und LNG) aus Russland – und nicht mehr über zwei Fünftel wie vor Beginn des Ukraine-Krieges. Ein Viertel kam bereits aus Norwegen, ein weiteres Viertel aus den USA und Katar. Moskaus Beitrag ist aber immer noch zu groß, als dass man ihn noch in diesem Jahr ganz ersetzen könnte. Entsprechend plant das die EU auch erst für 2027.
Wann genau die EU den Absprung schafft, hängt vor allem davon ab, wie schnell sie die Flüssiggas-Importe aus den USA ausbauen kann. Diese haben sich im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt. Die Frage ist, ob das so weitergeht. Denn beim derzeitigen Überfluss am Gasmarkt gibt es eine große Unbekannte: China.
Entscheidend ist, was nächsten Winter passiert
Die Wirtschaft der Volksrepublik erwacht gerade erst wieder aus der langen Zwangspause, die sie sich mit ihrer Null-Covid-Politik selbst verordnet hat. Je nachdem, wie schnell und wie heftig sie die Augen aufschlägt, könnte die steigende Nachfrage in Fernost den Gasmarkt in Europa auch schnell wieder leerfegen.
Die Sorge lässt sich bereits jetzt am Gaspreis ablesen. Am Spotmarkt sind die Preise zwar durch die Gasschwemme deutlich gefallen. Doch bei den Futures sieht es da schon anders aus: Laut FT ist der Standardkontrakt für die Lieferung im vierten Quartal im vergangenen Monat um etwa 20 Prozent teurer geworden und liegt derzeit bei rund 55 Euro pro Megawattstunde. 2019 – vor der Corona-Pandemie und Putins Überfall auf die Ukraine – lag er im Jahresdurchschnitt bei gerade mal 14,60 Euro.
Spannend wird es ab Herbst: Dann füllen die Importeure ihre Lager für den Winter und der Wettbewerb um die LNG-Ladungen dürfte weltweit spürbar zunehmen. 2022 ist Europa trotz Putins Erpressungsversuch nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen. „2023“, schrieb das französische Forschungsinstitut IFRI kürzlich, „ist die europäische Gaslage viel zerbrechlicher. Kleinste Lieferstörungen können weitreichende Folgen haben.“
Dieser Artikel ist zuerst auf n-tv.de erschienen.