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Massenklagen EU-Richtlinie zur Sammelklage: Was auf Deutschland zukommt

Sammlung von Aktenordnern mit Anklageschriften verschiedener Landgerichte zum Dieselskandal bei Volkswagen
Sammlung von Aktenordnern mit Anklageschriften verschiedener Landgerichte zum Dieselskandal bei Volkswagen
© IMAGO / photothek
In den USA sind Sammelklage ein verbreitetes juristisches Instrument. Mit der Umsetzung einer EU-Richtlinie kommen Sammelklagen auch nach Deutschland. Heiko Heppner und Thomas Nebel erklären, was das für Verbände und Unternehmen bedeutet

Sammelklagen kennt man aus den USA. Doch auch in Europa müssen Gerichte heutzutage Massen gleichgelagerter Fälle bewältigen. Anders als in den USA, wo man sich schon seit über 100 Jahren mit dem Phänomen beschäftigt, waren die EU-Staaten insgesamt eher zögerlich mit der Einführung von Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes. Auch weil man die amerikanische Sammelklage eher kritisch sah. Jetzt zwingt die EU die Mitgliedsstaaten zum Handeln. Bis Ende des Jahres ist die europäische Richtlinie zu Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher umzusetzen – auch hierzulande.

Heiko Heppner, J.D. (KU) & Dr. Thomas Nebel sind Co-Leiter der Praxisgruppe Konfliktlösung der Kanzlei Dentons

In Deutschland beschäftigt sich der Gesetzgeber seit 2005 mit dem Phänomen der Massenklagen. Erinnert sei an die mehr als 16.000 Klagen gegen die Deutsche Telekom nach dem Absturz ihrer Aktie im Jahr 2000. Damit war das Zeitalter der Massenverfahren auch in Deutschland eingeläutet. Der deutsche Zivilprozess war damals noch auf wenig komplexe Streitigkeiten zwischen zwei Parteien zugeschnitten. Der Gesetzgeber erhörte das überlastete Gericht und schuf das Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz, kurz: KapMuG. Ziel war die effizientere Bewältigung der 16.000 Klagen unter Vermeidung amerikanischer Zustände.

US-amerikanische Sammelklagen besitzen aus verschiedenen Gründen erhebliches Erpressungspotential gegenüber beklagten Unternehmen. Das KapMuG vermied diese Nachteile. Leider vermied es auch deren Vorteile. Die Praxis zeigt, dass KapMuG-Verfahren allenfalls gerichtliche Ressourcen schonen, aber den Verfahrensbeteiligten kaum Verfahrensvorteile bieten. Ihre überlange Dauer mit der Aussicht, anschließend mit jedem Kläger in einem zweiten Prozess Individualfragen klären zu müssen, ist eigentlich keiner Partei zuzumuten. Während die Deutsche Telekom die amerikanische Sammelklage im Juni 2005 mit einem Vergleich beilegte, endete das erste KapMuG-Verfahren erst im November 2021. Auch mit einem Vergleich. Amerikaner würden wohl kommentieren: Verspätetes Recht ist verweigertes Recht.

EU-Sammelklage ist als Verbandsklage konzipiert

Massenhafte Klagen gegen deutsche Autohersteller ebneten dann im Jahr 2018 den Weg für die Musterfeststellungsklage. Mit ihr beseitigte der deutsche Gesetzgeber einige Nachteile des KapMuG-Verfahrens. Kläger werden nicht länger zwangsweise am Verfahren beteiligt. Wer will, kann weiterhin seinen eigenen Prozess führen. Das ist jedoch zugleich ein Nachteil für Unternehmen, weil sie sich neben einer Vielzahl von Klagen auch auf ein aufwändiges Musterverfahren einstellen müssen. Anders als im KapMuG-Verfahren können Musterkläger nur bestimmte Verbände sein, die keine kommerziellen Interessen verfolgen.

Auch die nun umzusetzende EU-Sammelklage ist als Verbandsklage konzipiert. Anders als in den USA sind in der EU nur bestimmte Verbände zur Durchsetzung von Verbraucherinteressen befugt. Ein einzelner Verbraucher kann sich nicht zum Repräsentanten einer Vielzahl von Verbrauchern aufschwingen. Diese Regelung soll wohl verhindern, dass die EU-Sammelklage als Geschäftsmodell missbraucht wird. Damit stellt sich allerdings die Frage nach der Finanzierung von EU-Sammelklagen. Verbraucherverbände können teure Sammelklagen oft nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Das EU-Recht erlaubt daher ausdrücklich die Drittfinanzierung von Sammelklagen. Das öffnet eine Hintertür zu den in den USA bei Sammelklagen üblichen Erfolgshonoraren von 30 bis 40 Prozent der Urteilssumme für Prozessfinanzierer.

Neu ist auch, dass Sammelklagen auf Schadensersatz gerichtet sein können. Bislang sind in Deutschland nur Unterlassungs- und (Muster-)Feststellungsklagen möglich. Lediglich der in den USA typische Strafschadensersatz bleibt unzulässig.

Mit der EU-Sammelklage importiert man viele Schwierigkeiten, die mit US-Sammelklagen verbunden sind. Es stellt sich die Frage, wie Gerichte ohne Beurteilung des Einzelfalls Schadensersatz für eine Vielzahl von Fällen zusprechen sollen. Letztlich wird es, wie in den USA, auf Vergleichsverhandlungen und gerichtlich sanktionierte Konfliktlösungsmechanismen außerhalb des förmlichen Zivilprozesses hinauslaufen. In den USA führen Sammelklagen regelmäßig zu Vergleichen unter Aufsicht der Justiz. Die EU scheint aus diesen Erfahrungen gelernt zu haben. Die Richtlinie sieht ausdrücklich Vergleiche unter Aufsicht der jeweiligen nationalen Gerichte vor.

Vergleichsdruck für Unternehmen

Bedeutsam und ungewohnt für deutsche Gerichte und Unternehmen wird die Einführung von Offenlegungspflichten für beweisrelevante Dokumente. Dies gehört in den USA zum normalen Zivilprozess, ist hierzulande aber bislang die Ausnahme, so zum Beispiel bei Kartellschadensersatzprozessen. Gerade bei Sammelklagen kann diese Offenlegung für die Prozessparteien zu erheblichem Aufwand führen. Diesen werden die Parteien wohl weitgehend selbst tragen müssen. Diese Belastung ist ein Hauptgrund, warum Unternehmen US-amerikanische Sammelklagen als Erpressung empfinden. Verbraucherschutzorganisationen werden sich dieses Erpressungspotential zunutze machen, indem sie Sammelklagen in EU-Ländern mit für Unternehmen unbequemen Regeln einreichen. Auch dieses Phänomen kennt man aus den USA: Die Auswahl klägerfreundlicher Gerichte gehört zur Expertise des Klägeranwalts.

Schließlich erlaubt die EU ihren Mitgliedstaaten eine weitere Annäherung an das US-Recht: Inländische Betroffene können vor europäischen Gerichten automatisch in die Klage einbezogen werden. Sie müssen ausdrücklich austreten. Erfahrungen aus den USA zeigen, dass die menschliche Trägheit derartige Austritte nur selten zulässt. Lediglich Betroffene aus anderen EU-Staaten müssen sich aktiv beteiligen. Zwar haben die EU-Staaten beim Punkt der Einbeziehung Umsetzungsspielräume. Doch nutzen manche diese Spielräume bereits, um annähernd amerikanische Verhältnisse zu schaffen.

Unternehmen werden sich zunehmend einer Vielfalt europäischer Sammelklagen gegenübersehen, denen sie nur mit internationalen Anwaltskanzleien und entsprechenden Kosten begegnen können. Damit dürfte der Vergleichsdruck für Unternehmen steigen.

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