Markus Seidel studierte Wirtschaftsingenieurwesen und VWL in Karlsruhe und promovierte in St. Gallen im Bereich Innovationsmanagement. Seit fast 20 Jahren ist er Manager in der Automobilindustrie und treibt dort neue Ideen und Konzepte voran. 2014 erschien sein Buch "Geld war Gestern".
Das Weihnachtsgeschäft ist gelaufen. Über 85 Mrd. Euro hat der Einzelhandel 2014 wahrscheinlich umgesetzt. Neben Geld und Gutscheinen lagen auch Millionen Produkte unter den Weihnachtsbäumen im Land. Sie addieren sich zu den 10.000 Gegenständen, die jeder Haushalt bereits besitzt. Viele nutzt man nur selten. Sie werden in Schränken, in Kellern und in Garagen gelagert und vergessen. Das wollen verschiedene Start-ups ändern, die die nächste Stufe der Sharing Economy zünden. Haben sie Erfolg, wird „Nutzen statt Besitzen“ zum neuen Paradigma der Gesellschaft.
Systematisches Verleihen von Gegenständen und zeitlich befristetes Bereitstellen von Räumen, Flächen und Dienstleistungen zwischen Privatpersonen sind nicht neu. Mitwohn- und Mitfahrzentralen gibt es seit Jahrzehnten. In tausenden Tauschringen weltweit wird der gegenseitige Verleih von Gegenständen und das Bereitstellen von Dienstleistungen in einer Community organisiert. Der Erfinder moderner Tauschringe, der Brite Michael Linton, gilt auch heute noch als Lichtgestalt der Bewegung. Mit seinem erfolgreichen Tauschring auf Vancouver Island in Kanada schuf er 1983 die Blaupause.
Sharing total
Seit ein paar Jahren werden viele Ideen und Ansätze der Pioniere von Internet-Unternehmen aggressiv kommerzialisiert und mittels Investitionen in Milliardenhöhe mit hoher Geschwindigkeit weltweit verbreitet. Über Smartphone-Apps kann man überall und jederzeit auf ihre Angebote zugreifen und nutzen. Die US-amerikanischen Onlinevermittler Airbnb und Uber greifen auf diese Weise systematisch die etablierten Geschäftsmodelle von Hotels und Taxiunternehmen an, die sich zum Teil dagegen heftig wehren.
Während das Mieten von Privatwohnungen im Urlaub und die Nutzung von privaten Taxidiensten bereits Alltag sind, arbeiten Start-ups schon an der Weiterentwicklung der Sharing Economy. Bei Unternehmen wie Neighborgoods, Leihdirwas oder Frents verleihen Privatpersonen ganze Teile ihres Besitzes: vom Werkzeug über die Videokamera bis hin zum Fahrzeug. Einfach alles teilen – Sharing Total bzw. Sharing 2.0.
Natürlich gibt es noch ein paar Kinderkrankheiten: Die Anfahrt zum Übergabeort ist mühsam, wenn nicht der Nachbar helfen kann. Beschädigungen können zu Konflikten führen, die viel Nerven kosten. Oft findet man den gewünschten Gegenstand auch nicht, den man gerade braucht – zu viel Zeit geht noch verloren. Es ist viel leichter, den „Kaufen“-Knopf bei einem Onlineversender zu klicken und zu warten, bis es an der Haustür klingelt, um die Sendung in Empfang zu nehmen.
Die Revolution braucht noch ein Weilchen
Doch die Probleme sind lösbar: Logistiker könnten den Transport abwickeln und Versicherer spezielle Policen anbieten. Die Produkte könnten so optimiert werden, dass sie sich für Sharing besonders eignen. Funktioniert das System irgendwann mühelos, kann sich unser Konsumverhalten erheblich ändern: Dann werden wir vor allem jene Produkte kaufen, die wir häufig oder spontan nutzen, die schwer zu transportieren sind oder die uns emotional etwas bedeuten. Die meisten anderen werden wir online leihen, wenn wir sie gerade brauchen. So spart man Geld und schont die Umwelt.
Je mehr Beteiligte mitmachen und je komfortabler die Abläufe werden, desto leistungsfähiger wird das System: Durch den Netzwerk-Effekt entsteht ein riesiges weltumspannendes Angebot von Produkten, die ver- und geliehen werden können. Bis dahin wird es aber ein Weilchen dauern. Keller und Garagen werden erst mal noch gebraucht – auch Weihnachten sei Dank.