Wenn jemand vor diesem WM-Sonntag noch einmal schnell die Euphoriebremse ziehen und die brasilianische Leichtigkeit des Seins abschütteln will, dann empfehle ich: eine Prise Finnland.
Wenige Dinge machen zum Beispiel so rasch nüchtern wie eine Wahlkampfrede von Olli Rehn, dem finnischen EU-Kommissar und Spitzenkandidaten der Liberalen bei der Europawahl. Und nichts treibt so schön in die tiefste Schwermut wie die Schlussepisode von Jim Jarmuschs Taxi-Film „Night on Earth“, die in Helsinki spielt.
Wikipedia-Inhaltsangabe: „Nach einem langen Abend heftigen Trinkens klettern drei Arbeiter in ein Taxi. Einer ist gerade gefeuert worden. Unterwegs reden sie über die schreckliche Lage ihres bewusstlosen Freunds, der ohne Job ist, vor der Scheidung steht und dessen Tochter schwanger ist. Dann erzählt ihnen der Fahrer die traurigste Geschichte, die sie je gehört haben. Sie sind sehr bewegt und deprimiert und werden gefühllos gegenüber ihrem Freund.“
Man kann sich natürlich auch bloß ein paar finnische Wirtschaftsstatistiken ansehen.
Finnisches Lehrstück
Keine Frage: Es gibt sehr viel traurigere volkswirtschaftliche Geschichten in Europa als die Finnlands. Das einzige skandinavische Land, das zur Euro-Zone gehört, gilt als Stabilitätsanker und Vorbild. Die Staatsschulden sind (vergleichsweise) niedrig. Vom Weltwirtschaftsforum Davos ist Finnland gerade als wettbewerbsfähigste Wirtschaft Europas eingestuft worden.
Aber diese Top-Platzierung verdeckt eine ganze Reihe von wachsenden Problemen. Gerade den Deutschen, die sich dieser Tage auch ökonomisch fast schon unschlagbar fühlen, sollte die finnische Geschichte daher ein Lehrstück sein.
Nach dem Lob aus Davos beschrieb der Chef der finnischen Handelskammer, Risto Penttila, in einem Artikel für die „Financial Times“ die aktuelle Lage seines Landes: Finnlands Wirtschaft wächst schon seit fünf Jahren nicht mehr, die Arbeitslosenquote von fast neun Prozent ist die höchste Skandinaviens. Die Produktivität schwächelt, die Erwerbsbeteiligung ist auffallend gering. Die demographische Alterung schreitet hier ganz besonders schnell voran, die Einkommensteuersätze für die Mittelschicht zählen zu den höchsten in Europa.
Der Finanzminister braucht viel Geld, denn die finnische Staatsquote dürfte dieses Jahr etwa 58 Prozent erreichen. Das ist sogar noch mehr als im kriselnden Mutterland des Etatismus, in Frankreich.
Die Politik tut sich mit Reformen schwer
Finnland steckt nicht nur in einer Konjunkturflaute, es hat ein Problem mit seiner Wirtschaftsstruktur. Die Finnen sind zum Teil einfach Opfer von Steve Jobs und Apple: Das iPhone hat den einstigen Handy-König Nokia gestürzt, iPad und die Tablet-Computer verdrängen das Papier, mit dem die finnische Wald- und Zellstoffwirtschaft bislang gut verdiente.
Finnland brauche „mutige und schnell umgesetzte Reformen, um mittelfristig höheres Wachstum zu erreichen“, warnt der IWF in seinem neuestem Länderbericht. Die Politik tut sich damit aber äußerst schwer: In Helsinki regiert seit 2011 eine Große Koalition aus sechs Parteien, die von den Konservativen bis zu den Ex-Kommunisten reicht. Der bisherige Premier Jyrki Katainen verabschiedet sich demnächst in einen neuen Job nach Brüssel. Sein Nachfolger Alexander Stubb gilt immerhin als dynamischer Reformer.
Für die Deutschen lohnt der Blick nach Helsinki nicht nur, weil die dortigen Probleme irgendwann auch Folgen für die Euro-Politik haben könnten. Die finnische Malaise zeigt vor allem, dass es keine garantierten Spitzenplätze gibt, wenn die Welt sich rasch verändert.
Gestürzte Handykönige
Die Erfolgsstory Finnlands begann nach dem Ende des Kalten Kriegs, als der große Nachbar und Handelspartner Sowjetunion zusammenbrach und die Finnen ihre Wirtschaft in einem sehr schmerzhaften Prozess neu aufstellten. Es folgte der Triumphzug der Nokia-Ökonomie.
Heute wird Finnland weltweit bewundert für seine Schulen und die besonders gleiche Verteilung der Einkommen. Ob es seinen Wohlstand halten kann, hängt aber vor allem davon ab, ob die Nokia-Ökonomie auch in Zukunft anpassungsfähig genug ist.
Wie würde es eigentlich Deutschland ergehen, wenn, sagen wir: die hiesige Autoindustrie in einen ähnlichen Revolutionssturm geriete wie die gestürzten Handykönige aus Finnland?
Na gut. Vielleicht reden wir vorher lieber erst noch mal über Argentinien.