Als Lawrence Leuschner im Frühjahr 2018 am Strand von San Diego aus dem Wasser steigt, erblickt er seine nächste Geschäftsidee. Leuschner, aufgewachsen in Hofheim am Taunus und 2004 einer der Gründer des Online-Gebrauchtwarenhandels Rebuy, hatte anderthalb Jahre zuvor ein Sabbatical begonnen und bereist seitdem im VW-Bus die schönsten Surfreviere der Welt. Er trägt jetzt einen Bart und die Haare lang. Was er an der kalifornischen Küste entdeckt, sind Tretroller: keine Spielzeuge für Kinder, sondern elektrisch angetriebene Modelle, auf denen Erwachsene herumkurven, mit erstaunlicher Geschwindigkeit und offenbar ziemlich viel Spaß.
„Ich habe mich dann eingehender damit beschäftigt“, schreibt Leuschner in einem Blogbeitrag, „denn ich wollte ein weiteres impact business wie Rebuy aufbauen.“ Ende Juli gründet er in Berlin das Start-up Tier, einen Verleih für batteriebetriebene Tretroller, der die „urbane Mobilität für immer verändern“ soll.
Mit ähnlich zukunftsfroher Rhetorik drängen gerade eine ganze Reihe von E-Tretroller-Start-ups auf den Markt. In Deutschland sind solche Elektrokleinstfahrzeuge noch gar nicht zugelassen, die entsprechende Verordnung wird erst Ende des Frühjahrs erwartet. Trotzdem bereiten sich hier bereits ein gutes Dutzend Anbieter auf den Launch vor. In Hunderten Städten in Asien, Südeuropa, Nord- und Südamerika gehören die Roller bereits zum Stadtbild. Das E-Tretroller-Sharing soll das Problem der letzten Meile lösen, als umweltfreundlicher Lückenschluss zwischen öffentlichem Nahverkehr und dem Zielort von Pendlern und Geschäftsreisenden. Das jedenfalls ist die grüne Vision.
Fürs Erste aber ist der Tretrollerhype vor allem ein rauschhaftes Wettrennen von Start-ups mit kaum unterscheidbaren Produkten und Geschäftsmodellen – und von Investoren, die mit Milliarden an Risikokapital eine gigantische Materialschlacht finanzieren. Und das alles in einem Markt, von dem noch vor einem Jahr kaum jemand ahnte, dass es ihn überhaupt gibt.
So schnell ging’s noch nie
Das Pionierunternehmen Bird, dessen Roller in San Diego an Tier-Gründer Leuschner vorbeiflitzten, erreichte die 1-Mrd.-Dollar-Bewertung in nur sechs Monaten – das hatte vorher kein Start-up geschafft. Vier Monate später hatte Bird 2 Mrd. Dollar erreicht und eine ganze Kohorte an Nachahmern an den Hacken: Lime, Skip, Spin, Scoot, Jump oder Bolt allein in den USA, Yellow und Grin in Lateinamerika, in Europa Voi, Dott, Flash, Wind, Hive – und Tier.
Dass Start-ups zeitgleich mit sehr ähnlichen Geschäftsmodellen loslegen, ist für die Techwelt kein ganz neues Phänomen. Bislang unerreicht ist aber die Geschwindigkeit dieses Wettrennens – und die Menge des verfeuerten Risikokapitals. Selbst die ersten Anzeichen für Überhitzung und Konsolidierung tauchen im Schnelldurchlauf auf: Die Marktführer Bird und Lime müssen aktuell Finanzierungsrunden bei gleichbleibender Bewertung durchführen, in Europa sprechen erste Anbieter schon über Fusionen.
Als Leuschner und sein Mitgründer Julian Blessin im Juli 2018 die Gründungsdokumente der Tier Mobility GmbH unterzeichnen, wissen sie, dass es schnell gehen muss. Den August nutzen sie, um die ersten 2 Mio. Euro von Investoren einzuwerben, eine Powerpoint-Präsentation reicht dafür. Im September arbeiten sie an der Sharing-Software, verändern die aus China eingekauften Roller etwas und engagieren Dienstleister, die die Roller abends einsammeln und über Nacht aufladen.
Am 13. Oktober, exakt 81 Tage nach der Firmengründung, startet Tier in Wien mit 200 Tretrollern, die per App gesucht und gebucht werden können, für 1 Euro pro Fahrt plus 15 Cent je gefahrener Minute. Wenige Tage später stecken Investoren noch einmal 25 Mio. Euro in das Unternehmen. Inzwischen hat Tier 80 Mitarbeiter und verleiht seine Roller in 14 europäischen Städten, die nächsten sind schon in Planung.
„Wir sind jetzt bereit, ungefähr eine Stadt pro Woche zu machen“, sagt Julian Blessin. Anders als sein Mitgründer Leuschner hat Blessin Erfahrung im Shared-Mobility-Markt, er hat für BCG und Bosch den Anbieter Coup aufgebaut, der seit 2016 Elektromotorroller verleiht. Das Geschäft mit den Tretrollern sei noch einmal deutlich attraktiver, erklärt Blessin: „Die Investitionskosten sind viel geringer, aber die Zahlungsbereitschaft unterscheidet sich gar nicht so stark.“
Die Leute lieben die Tretroller. Die Dinger lassen sich einfach steuern, sind aufregend, neu, schnell, unkompliziert. „Wir sind begeistert von den hohen Annahme- und Kundenbindungsraten“, sagt Blessin. Details verraten die Tier-Gründer nicht. Aber aus den USA ist etwa eine Zahl des Anbieters Spin bekannt, der von Fahrrad- auf Tretrollerverleih umsattelte – was die Nutzungsrate um den Faktor 20 erhöhte. Insider sagen, dass ein Roller im Schnitt sechs- oder siebenmal pro Tag genutzt wird. Daraus resultiert ein Tagesumsatz von 20 bis 25 Dollar – und das bei geschätzten Produktionskosten von nur 400 Dollar pro Fahrzeug. Nach zwei bis drei Monaten ist so ein Roller nach Aufwendungen für Kauf, Betrieb und Abnutzung profitabel.
Kontrolle des Mobilmarkts
Dabei sind die vielversprechenden Margen nur ein Grund dafür, dass die Tretroller unter Start-ups und Investoren gerade so en vogue sind. Entscheidender sei, dass sich die Nutzer derart häufig auf die Roller stellen, sagt der Mobilitätsexperte Gunnar Froh, dessen Hamburger Firma Wunder Mobility die Software für einige der wichtigsten Verleiher liefert. Er ist überzeugt, dass die Roller in Zukunft häufiger als Taxis, Leihräder oder irgendein anderes Verkehrsmittel genutzt werden – und damit hätten die Verleiher „das Potenzial, andere Transport-Apps vom Homescreen zu verdrängen“. Ihre Portale wären dann für die meisten Nutzer die erste Anlaufstelle, womit die Rollerunternehmen den Zugriff auf andere Mobilitätsdienste kontrollieren würden. Ihren Nutzern könnten sie etwa auch Mietautos (oder Flugtaxis) vermitteln – und von den Anbietern Gebühren dafür kassieren.
Oder, ebenfalls ein lukratives Szenario: Die Start-ups positionieren sich als Übernahmeziel für große Branchenplayer. Dass das funktionieren kann, zeigt die Akquisition des Tretrollerverleihers Spin durch Ford für 100 Mio. Dollar. Auch andere Mobilitätsriesen drängen in den Bereich: Daimler will über die Tochter Mytaxi ein eigenes Angebot starten, Uber hat in Lime investiert und soll eine Übernahme diskutieren.
Die Goldgräberstimmung ließ sich kürzlich auf der Münchner Digital-Life-Design-Konferenz spüren, auf der sich zwei Tretroller-Entrepreneure und ein Investor eine Bühne teilten. Der Investor, Alexander Frolov von Target Global, jubelte: „Das Wachstum von Umsatz und Nutzerakzeptanz ist absolut beispiellos.“ Neben Frolov saß Lukasz Gadowski, legendärer Berliner Start-up-Unternehmer, der sich jahrelang nur als Geldgeber betätigte – und nun mit dem Rollerverleiher Flash selbst wieder gegründet hat. 55 Mio. Euro hat er von Investoren bekommen, ohne überhaupt offiziell am Markt zu sein. „Es ist superaufregend“, sagte Gadowski. Die Pioniere um Bird hätten eine „ganz neue Kategorie erfunden“. Allerdings – und hier sagte er einen wichtigen Satz – sei es ein „sehr gut gehütetes Geheimnis der frühen Player, was die Halbwertzeit der Fahrzeuge ist“.
Die Frage, wie lange ein E-Tretroller im Sharing-Einsatz hält, ist entscheidend, weil davon nicht nur abhängt, ob sich das Modell rechnet, sondern auch wie gut seine Ökobilanz wirklich ist. Als die Roller Ende März 2018 in San Francisco auftauchten, dauerte es nur Tage, bis sie reihenweise von Brücken geworfen oder in ihre Einzelteile zerlegt wurden – der ganze Frust über die Exzesse des Techbooms im Valley schien an ihnen ausgelassen zu werden. Bird, Lime und Spin hatten in San Francisco weder Anwohner noch die Verwaltung vorgewarnt, sondern einfach die Bürgersteige vollgestellt. Im Juni verbot die Stadt zunächst alle Tretroller, später vergab sie Lizenzen an zwei Anbieter und deckelte die Zahl der Gefährte. Scoot etwa durfte 625 auf den Straßen verteilen. Die Bilanz: „In unseren ersten zwei Wochen wurden mehr als 200 Roller gestohlen oder so beschädigt, dass sie nicht mehr repariert werden konnten“, berichtete der CEO.
Offenbar kümmert das viele Anbieter wenig. Das Start-up Skip behauptet etwa, Wettbewerber würden „kaputte Roller einlagern und planen, diese auf Deponien zu entsorgen“. Das mag teils an überbordendem Vandalismus liegen, eher aber daran, dass die Rollermodelle schlicht nicht robust genug sind, einen monatelangen Dauerbetrieb zu überleben. In einem Antrag für eine Lizenz in Portland nannte der Anbieter Lime einmal die Zahl von vier Monaten als Lebensdauer seiner Roller. Gunnar Froh bezweifelt das – nach seinen Erfahrungen liegt diese eher bei drei Monaten. Andere Insider gehen sogar von nur acht Wochen aus.
Nachhaltigkeitsexperten wie Axel Franck von Accenture finden das erschreckend. „Aus Elektroschrottperspektive ist das ein Riesenproblem“, sagt er. Denn selbst in Deutschland fehlt für die verbauten Lithium-Ionen-Akkus eine verbindliche Rücknahmeregelung.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel lobt die E-Tretroller dennoch: „Wir stehen dem Thema positiv gegenüber. Wer nicht zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren will, für den bieten Elektrokleinstfahrzeuge eine dritte Alternative zum Auto.“ Wie bei allen Sharing-Angeboten ist die zentrale Frage, was substituiert wird: Bleibt das Auto stehen, verbessert das die Ökobilanz erheblich. Werden Fahrräder, Bus und U-Bahn ersetzt, dürfte sie sich hingegen verschlechtern.
Selbst bauen will keiner
Der Schlüssel ist eine möglichst lange Lebensdauer. Bei Tier, sagt Julian Blessin, sei die Zielmarke mindestens ein Jahr. „Jeder im Markt ist dran, die Haltbarkeit der Fahrzeuge zu verlängern“, verspricht der Gründer. Gelenke werden versteift, Einzelteile besser verschweißt. Fast alle Verleiher beziehen ihre Modelle vom chinesischen Hersteller Segway-Ninebot, der inzwischen einen speziell fürs Sharing gedachten Roller im Sortiment hat.
Ob damit die Lebensdauer signifikant steigt, bleibt abzuwarten. Eine eigene Produktion erwägt kaum ein Anbieter – zu teuer, zu umständlich. Jetzt geht es erst einmal um die Eroberung von Märkten, darum, die anderen hinter sich zu lassen. Und einfach ist das nicht. Über die Hardware, die Roller, können sich die Start-ups kaum differenzieren. „Wir haben keine siebenjährigen Entwicklungszyklen wie beim Auto, da sind drei Monate Vorsprung schnell aufgebraucht“, gibt Blessin zu. Schnell sind die Start-ups fast alle, gut finanziert ebenfalls. Die Algorithmen, die die Verteilung der Roller steuern, gelten auch schon fast als Commodity. Was also wird den Unterschied machen?
„Die Ansprache“, glaubt Blessin. „Wie wir auftreten, wie wir uns selbst verstehen.“ Tier wolle nicht die gleichen Fehler machen wie Uber – dort scherte man sich nicht groß um Regeln und Gesetze und verlor Deutschland so auf Jahre als Markt. Eine Rollerschwemme in den Innenstädten werde es mit Tier ebenfalls nicht geben, das habe man aus dem Bike-Sharing-Fiasko gelernt, das Verleiher 2017 in München anrichteten. „Wir expandieren aggressiv“, sagt Blessin, „aber wir verhalten uns nicht aggressiv.“ Ob Nettigkeit in der globalen Schlacht der Tretroller belohnt wird? Schön wäre es ja.
Der Beitrag ist in Capital 03/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay