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Chinas Öffnung Die riskante Corona-Wette von Präsident Xi Jinping

In Peking stehen Menschen Schlange. Fiebersenkende Medikamente und Schmerzmittel sollen knapp werden.
In Peking stehen Menschen Schlange. Fiebersenkende Medikamente und Schmerzmittel sollen knapp werden.
© VCG/Getty Images
Chinas Führung kalkuliert mit einer schnellen und heftigen Corona-Welle – und hofft auf einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung. Aber geht das Kalkül auf? Experten haben erhebliche Zweifel

China öffnet sich wieder. Doch hat die Regierung von Präsident Xi Jinping ihren absolutistischen Kurs gegen Covid-19 in unerwartet schnellem Tempo verlassen – nach drei Jahren Massentests und strengen Abriegelungen, die die Wirtschaft des Landes lähmten und die Bürger verärgerten.

Der als „Null-Covid-Politik“ bekannte Ansatz ist damit Geschichte. Er stellte das Coronavirus als gefährlichen Erreger dar, der beseitigt werden musste, eben um den Preis von rigorosen Zwangsmaßnahmen. Jetzt wird öffentlich betont, dass die Omikron-Variante, die sich in China rasant ausbreitet, nicht gefährlicher sei als die saisonale Grippe. Der einflussreiche chinesische Epidemiologe Zhong Nanshan behauptete kürzlich, eine Omikron-Infektion könne einfach als „Erkältung“ eingestuft werden.

Die Wende hat auf den Finanzmärkten für Aufwind gesorgt. Chinesische Aktien, die in Hongkong gehandelt werden, sind in den letzten acht Wochen um mehr als 30 Prozent gestiegen, weil man davon ausging, dass die Störungen in den Lieferketten behoben und die von den Lockdowns befreiten Haushalte wieder Geld in die Hand nehmen und kräftig konsumieren werden. Die großen Wall-Street-Banken korrigierten ihre Prognosen für das Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt für 2023 eilig nach oben.

Die Stimmung auf Chinas symbolischer Hauptstraße ist deutlich anders. Anfang Dezember herrschte noch Überschwang, als die Behörden verkündeten, dass es keine obligatorischen Tests mehr geben würde, keine Lockdowns mehr und keine Abschiebung von Covid-Infizierten in spartanische Einrichtungen zur überwachten Quarantäne. Es schien, als hätten sich die Tausenden durchgesetzt, die Ende letzten Monats zum Protest gegen drastische Auflagen auf die Straße gingen. 

Was folgte, war die Erkenntnis, dass die Abkehr von Null-Covid auch das Virus freisetzt. Nun haben in Städten in ganz China Geschäfte aus Personalmangel geschlossen und Fabriken aufgrund von Ausbrüchen am Fließband ihre Produktion verlangsamt. Medikamente zur Behandlung von Fieber werden rar, und in Krankenhäusern bilden sich lange Schlangen.

Xi wettet auf Tempo

Noch besorgniserregender ist die niedrige Impfrate unter älteren Chinesinnen und Chinesen. Die neuesten verfügbaren Daten zeigen, dass nur 42 Prozent der über 80-Jährigen eine Booster-Impfung erhalten haben. Und obwohl die Behörden ihre Bemühungen um die Impfung von Risikogruppen verstärken, besteht die reale Gefahr, dass die Öffnung Chinas eine große Zahl von Todesfällen mit sich bringen wird. Der leitende Pharma-Analyst von Bloomberg Intelligence, Sam Fazeli, geht davon aus, dass die Zahl der Toten 700.000 erreichen könnte. Die Studie eines einflussreichen Forscherteams in Hongkong schätzt fast eine Million.

In Anbetracht der Risiken hatten die meisten Analysten erwartet, dass die Abkehr von „Null Covid“ nur schrittweise erfolgen würde. Warum Xi auf einen viel schnelleren Ausstieg setzt, wird die Welt – aufgrund der undurchsichtigen Entscheidungsprozesse in der Kommunistischen Partei – wohl nie erfahren.  Klar scheint jedoch, dass Xi einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung in Verbindung mit einer relativ geringen Zahl von Todesopfern anstrebt, damit sich diese Wette auszahlt.

Zumindest an der Wachstumsfront sollte schnelles Handeln helfen.  Ein rasches Umschwenken wird Störungen auf die letzten Wochen dieses und die ersten Monate des nächsten Jahres konzentrieren – Fehlzeiten wegen Ansteckungswellen oder Verbraucher, die aus Angst vor Infektionen zu Hause bleiben. Je schneller diese Wachstumsbremsen überwunden werden, desto eher werden die Früchte des Kurswechsels greifbar.

Schnelles Handeln kann auch die Kritiker des Regierungskurses gegen Covid besänftigen. Die Demonstrationen Ende November hatten sich zunächst an einem tödlichen Brand in einem Wohnblock in Xinjiang entzündet – eine Tragödie, für die viele Menschen die Absperrungen zur Durchsetzung der Covid-Politik verantwortlich machten. Die Protestinhalte weiteten sich schnell auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von „Null Covid“ aus, wobei Demonstranten sogar den Rücktritt Xis forderten.

Etwa sechs Wochen, nachdem Chinas mächtigster Führer seit Mao sich eine dritte Amtszeit gesichert hatte, war dies eine deutliche Erinnerung daran, dass niemand unbesiegbar ist.

Aus dem Ruder gelaufen?

„Ich sehe keine Strategie, Covid auf die Bevölkerung loszulassen,“ sagt Steve Tsang, Direktor des China Institute an der SOAS University in London. „Ich sehe, dass Xi zugestimmt hat, den Null-Covid-Ansatz als Reaktion auf die Proteste abzuschwächen – aber nicht abzuschaffen; und zwar zu einem Zeitpunkt, als das Establishment im Gesundheitswesen bereits die Unhaltbarkeit des Null-Covid-Regimes erkannt hatte.“

Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit scheint das Argument des schnellen Handelns tatsächlich weniger stichhaltig. Abgesehen von der unzureichenden Durchimpfung älterer Menschen kommt die chinesische Wende genau zum Eintritt des Landes in die kältesten Monate des Jahres – eine Zeit, in der sich Atemwegserkrankungen leicht verbreiten, weil Menschen mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbringen.

Außerdem hat das chinesische Gesundheitssystem wenig Zeit sich vorzubereiten. Anhand des Verbreitungsmusters von Omikron in den USA und Europa schätzt Bloomberg-Experte Fazeli, dass in den ersten sechs Monaten nach der Öffnung täglich 32.000 Patienten in Intensivstationen aufgenommen werden müssten. Das kann die Krankenhäuser des Landes schnell überfordern. Nach einer Schätzung der Chinese Society of Critical Care Medicine von 2020 verfügen sie nur über etwa 48.000 Intensivbetten. 

Stadt-Land-Gefälle

Ein weiterer Grund zur Sorge ist die bisherige Konzentration der Infektionen auf die größten Städte Chinas: Dort befinden sich auch die besten Krankenhäuser. Sobald Omikron sich auf Kleinstädte und ländliche Gebiete ausbreitet, werden „die großen Risiken“ auftauchen, erwartet Duncan Wrigley, Chefökonom für China bei Pantheon Macroeconomics. „Höchstwahrscheinlich werden einige Regionen wieder zu umfassenderen Beschränkungen zurückkehren, um die Fallzahlen einzudämmen und eine komplette Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern.“

Jetzt innezuhalten und unter dem Druck steigender Totenzahlen überstürzt den Rückwärtsgang zu „Null Covid“ einzulegen, wäre für Xi ein kaum wünschenswertes Szenario. Dies könnte auch eine Erklärung dafür sein, dass offenbar eine niedrigere Zahl der offiziellen Todesfälle konstruiert, oder diese ganz verschwiegen wird.

Vor einigen Tagen sagte Wang Guiqiang, ein hochrangiger Mediziner für Infektionskrankheiten, vor der Presse in Peking, dass nur noch Menschen als offizielle Virustote gezählt würden, die positiv auf Covid getestet wurden und an Atemwegserkrankungen gestorben sind.  Das begrenzt die bisherige Definition von Covid-Opfern erheblich. Sie umfasste jeden Sterbefall nach einem positiven Test auf das Virus, auch wenn eine Vorerkrankung oder ein Ereignis wie einen Herzinfarkt die akute Todesursache war. 

So kann die offizielle Zahl der Todesfälle tatsächlich niedrig gehalten werden. Nach Berichten von überdurchschnittlich hohen Aktivitäten von Bestattern und Krematorien in Peking besteht aber die Gefahr einer wachsenden Kluft zwischen den offiziellen Angaben und dem, was die Menschen selbst erleben. Xi und andere Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas setzen darauf, dass sie die Differenzen durch einen beschleunigten wirtschaftlichen Aufschwung glätten können. 

© 2022 Bloomberg L.P.

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