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Kommentar Die Plage mit Europa

Wir brauchen nicht mehr europäische Integration sondern weniger. Mehr Macht für die Nationen und mehr Wettbewerb. Von Roger Bootle
Europa wartet auf Deutschlands Position für anstehende Reformen Bootle
Europa schiebt sich vor die Nationen, aber das ist falsch, meint Roger Bootle
© Getty Images

Ich verstehe gut, warum Deutschland zu den stärksten Unterstützern der EU gehört. Es gibt dafür viele Gründe: das Ausmaß der Gräuel, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg erlebten ebenso wie ihre Schuld wegen der Gräuel, die sie anderen zugefügt haben; die Teilung des Landes; die Besatzung eines Landesteils durch die Rote Armee. Angesichts dieser Ereignisse ist die deutsche Unterstützung für das europäische Projekt leicht zu verstehen.

Aber nicht alle europäischen Länder haben das so erlebt. Mein eigenes Land, Großbritannien, mit Sicherheit nicht. Viele Briten empfinden gegenüber der europäischen Integration tiefe Furcht und Misstrauen – und ich teile das. Dabei richtet sich mein neues Buch „The Trouble with Europe“ keineswegs gegen Europa, im Gegenteil. Wie viele Briten fühle ich mich gleichzeitig als Brite und als Europäer. Gerade weil ich so sehr Europäer bin und weil ich so verzweifelt möchte, dass Europa in der Welt Erfolg hat, bin ich nicht damit einverstanden, wie die EU derzeit aufgestellt ist. Ich glaube, dass es vor allem die EU ist, die dem Erfolg Europas im Weg steht.

Roger Bootle ist der Autor von „The Trouble with Europe“. Das Buch ist kürzlich im Verlag Nicholas Brealey Publishing in London erschienen
Roger Bootle ist der Autor von „The Trouble with Europe“. Das Buch ist kürzlich im Verlag Nicholas Brealey Publishing in London erschienen
© dpa

Denn in einem sollte man sich nicht täuschen: Europa ist derzeit nicht erfolgreich. Die EU hat in der Vergangenheit einige gute Dinge erreicht. Sie hat dazu beigetragen, den Frieden in Europa zu sichern und Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland zu schmieden. Sie hat nach den Verheerungen des Krieges zum Wachstum des Handels und zum Aufschwung beigetragen. Sie hat die Flüchtlingsländer des früheren Ostblocks in ihr Haus aufgenommen und sie so in die internationale Ordnung normaler zivilisierter Staaten zurückgebracht. Für all das sollten wir dankbar sein.

Aber so wie die Dinge nun stehen ist die EU nicht hilfreich. Ihre wirtschaftliche Leistung ist dürftig, nicht nur im Vergleich zu den Schwellenländern sondern sogar im Vergleich zu den USA und anderen entwickelten Volkswirtschaften. Denn der Drang zur Harmonisierung und Integration hat auch einen Drang zur Überregulierung mit sich gebracht. Mehr noch: Die EU hat die natürliche Tendenz zum Wettbewerb zwischen den europäischen Staaten erstickt, die normalerweise dafür gesorgt hätte, dass die Regierungen eine ökonomisch sinnvollere Politik betrieben hätten.

Der Euro ist der größte Fehler

Die europäische Integration ist ein politisches Projekt – ein überflüssiges und gefährliches. Es ist schwierig zu glauben, dass die EU je ein erfolgreicher integrierter Staat werden könnte. Ihre institutionellen Strukturen sind zu schwach und sie kann nicht effektiv als ordentliche Demokratie funktionieren. Ihre politischen Ambitionen im Verein mit ihrer dürftigen politischen Funktionalität produzieren oft haarsträubende wirtschaftliche Entscheidungen, die die Menschen in Europa enorm viel kosten.

Die schlimmste dieser Entscheidungen war die Schaffung des Euro. Das Resultat ist, dass die Deutschen enorme finanzielle Lasten tragen müssen, um die Peripherie zu unterstützen. Ihr wahrer Beitrag und die in der Zukunft auf sie zukommenden Lasten werden vor ihnen vorborgen durch die undurchsichtige Art, in der diese Unterstützung verteilt wird – durch die Bundesbank und das mysteriöse Target-2-System; und durch die Buchstabensuppe der Hilfsfonds ESM, EFSF und viele andere. Die Leute können durch diese Vielzahl an Hilfsmechanismen leicht hinters Ohr geführt werden.

In der Praxis gibt es nur drei entscheidende Konzepte, dass die deutschen Bürger verstehen müssen:

— Die zu hohen Ausgaben und zu hohe Verschuldung der Peripherieländer in der Vergangenheit, für die die Deutschen zahlen müssen
— Die zu hohen Ausgaben und zu hohe Verschuldung der Peripherieländer in der Gegenwart, für die die Deutschen zahlen müssen

— Die zu hohen Ausgaben und zu hohe Verschuldung der Peripherieländer in der Zukunft, für die die Deutschen zahlen müssen.

Die EU steckt in der Identitätskrise

Die Deutschen sollten einmal ganz genau nach Italien schauen und sich fragen, ob sie bereit sind, für Südeuropas Mezzogiorno die Rolle Mailands zu übernehmen. Es ist eine Szene, die aus Dantes Inferno stammen könnte. Ohne Deutschlands finanzielle und politische Unterstützung würde der Euro scheitern. Das wiederum würde die grundlegende Verfassung der EU in Frage stellen. Wir Europäer müssen entscheiden, welche Art von Europa wir wollen – und welche Art von Europa Sinn macht.

Ganz sicher nicht dasjenige, das sich vor unseren Augen entwickelt. Die EU leidet unter einer tiefen Identitätskrise. Soll sie die moderne Reinkarnation des Christentums sein? Oder ist sie eine Gemeinschaft von Staaten in geografischer Nähe, die bestimmte nüchterne Kriterien für die Mitgliedschaft erfüllen? Wenn die EU vor allem deswegen existiert, um Nachbarn zusammenzubringen, wie kann so eine Gemeinschaft eng verbunden sein und auf gemeinsamen Werten basieren?

Die Türkei ist der Prüfstein. Soll sie Teil der EU werden? In einigen europäischen Staaten leben große moslemische Minderheiten, aber das ist etwas ganz anderes als einen islamischen Staat aufzunehmen, in dem heute 76 Mio. Menschen leben und der nach Berechnung des türkischen Statistikamts in 20 Jahren 90 Mio. Einwohner haben wird. Die EU hat auf diese Herausforderung reagiert, indem sie die türkische Mitgliedschaft blockiert. Mit dem Ergebnis, dass auch die Türken selbst sich von der Idee zunehmend abwenden.

Dieses Problem, genauso wie die Probleme, die die offenen Grenzen schaffen, und das Desaster, das der Euro gebracht hat, ist das Ergebnis einer Haltung, die die EU als integriertes Staatswesen versteht. Und die dieses Ziel auch nach seinem längst erreichten Verfallsdatum weiter verfolgt. Wir brauchen nicht mehr europäische Integration sondern weniger. Mehr europäische Vielfalt, mehr Macht für die Nationen, mehr Wettbewerb. Die EU aber ist so strukturiert, dass sie etwas ganz anderes bewirkt. Und sie wird verdammte Schwierigkeiten haben, sich zu reformieren. Wenn ihr das nicht gelingt, wird die EU die Perspektiven Europas behindern – und sie verdient es dann, auseinanderzubrechen. Das ist die Plage mit Europa.

Der Beitrag von Roger Bootle gehört zu unserer losen Reihe von Kommentaren zur Zukunft der EU anlässlich der Europawahl am 25. Mai. Bisher erschienen sind Daniel Gros Europa in der Reha und Charles Wyplosz Fehlschlüsse aus der Eurokrise

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