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Gastkommentar Industrie 4.0 - Maschinen ohne Obdach

Damit die Industrie 4.0 Fuß fasst, müssen vor allem Mittelständler Neues wagen, z.B. eine „obdachlose“ Maschine. Von Jürgen R. Schmid
Konzeptstudie Maschine 2020: Sieht so die Zukunft der Maschine aus?
Konzeptstudie Maschine 2020: Sieht so die Zukunft der Maschine aus?

Jürgen R. Schmid ist Inhaber des Designunternehmens Design Tech. Die Firma sitzt in Ammerbuch bei Tübingen und designt nach eigenen Angaben weltweit als einzige Firma ausschließlich Maschinen

Mit zunehmendem Reifegrad einer Technologie wird es immer schwieriger, Produkte abzusetzen. Daher müssen Unternehmen sehr früh schauen, was sie als Nächstes auf den Markt bringen. Die Zukunft insbesondere der Mittelständler hängt hierzulande deshalb stark davon ab, wie innovationsfähig sie sind. Doch genau daran hapert es zunehmend. Denn anstatt radikal Neues zu denken, wird häufig nur im Verbesserungsmodus gedacht und gearbeitet. Eine Sackgasse, die letztlich den Wohlstand aller gefährdet. Die Lösung: Visionen und eine gehörige Portion Mut, um liebgewonnene Ansichten über Bord zu werfen.

Industrie 4.0 – (k)ein Thema für den Mittelstand

Zwar lassen die politischen Entscheidungsträger kaum eine Chance aus, um auf die Bedeutung der vierten industriellen Revolution hinzuweisen. Aber beim Mittelstand kommen ihre Aufrufe und Initiativen nicht richtig an. So partizipieren beispielsweise nur wenige „echte“ KMUs von den Industrie 4.0-Fördertöpfen der Bundesregierung. Neben den vorhandenen bürokratischen Hürden, die viele Firmen abschrecken dürften, sind die Initiativen wahrscheinlich schlichtweg nicht bekannt.

Und nicht nur diese. Selbst der Begriff Industrie 4.0 scheint mehr oder weniger ungehört durch die Medien zu rauschen. Laut einer aktuellen Umfrage können fast zwei Drittel der mittelständischen Fertiger in der DACH-Region nichts mit dem Begriff „Industrie 4.0“ anfangen. Die Studie des Analysehauses Techconsult aus dem Jahre 2014 legt damit den Finger in die Wunde. Denn der Mittelstand gilt als Rückgrat der deutschen Wirtschaft und verschläft nun das essenzielle Projekt der Zukunft. Das ist höchst bedenklich, selbst wenn davon ausgegangen werden kann, dass viele KMUs, die mit dem Begriff Industrie 4.0 nichts anfangen können, durchaus Produkte fertigen, die Keimzellen der Industrie 4.0-Initiative darstellen. Aber allein die Tatsache, dass der Begriff bei einer Mehrheit der Entscheidungsträger aus kleinen und mittelständischen Firmen nicht mit Inhalt gefüllt werden kann, legt die Vermutung nahe, dass ein Großteil von ihnen keine Vorstellung Ihrer eigenen Zukunft hat.

Grenzen überschreiten

Innovativ ist, wer über das eigene System hinausdenkt und handelt. Das scheint logisch und einfach. Aber wie ein simpler Kreativtest immer wieder zeigt, haben viele Menschen damit ihre Probleme. Ihnen gelingt es nicht beim sogenannten Neun-Punkte-Test die neun vorgegebenen Punkte mit vier Geraden zu verbinden, ohne den Stift abzusetzen. Nur jene, die aus dem System ausbrechen, bei diesem Beispiel also mit den Geraden über die Punkte hinausgehen, lösen die Aufgabe. Unternehmen, die Maschinen entwickeln, sollten darum nicht nur über zu entwickelnde Funktionen und Prozesse nachdenken. Sie sollten im kreativen Denk- und Konstruktionsprozess auch weiterführende Gedanken, Ideen und Fragen zulassen. Selbst wenn Industrie 4.0 eher noch in Form einer unscharfen Wolke diskutiert wird, kann sie im Jetzt interessante Menschen und interdisziplinäre Kompetenzen zusammenbringen und neue Ideen anstoßen.

Immer wieder gilt es auch Bestehendes in Frage zu stellen: Warum müssen Maschinen beispielsweise in ein Gebäude gestellt werden? Können sie nicht auch als autarke Systeme begriffen und konstruiert werden, die ihr Haus wie eine Schnecke gleich mitbringen? Die Vorteile dieser „obdachlosen“ Maschinen wären gravierend: weniger Investitionen in die Infrastruktur, größere Flexibilität und Mobilität für die produzierenden Unternehmen und ein schnellerer Produktionsstart.

Neue Denksysteme

Die deutschen Maschinenbauer gelten weltweit zwar als innovativ, aber Insider der Branche überrascht immer wieder, dass sich viele Unternehmen auf ihrem Vorsprung „ausruhen“. Eine gefährliche Strategie, die die eigene Existenz bedroht. Firmen, die an den Entwicklungen der Zukunft teilhaben wollen, müssen deshalb unbedingt ihre altgewohnten Denk- und Handlungssysteme verlassen. Sie brauchen tragfähige Vorstellungen von der Zukunft.

Diese zu formulieren, gelingt ihnen nicht immer ohne Hilfestellung. In Baden-Württemberg hilft beispielsweise der Landesverband Mechatronik e.V. mit verschiedenen Partnern Maschinenbauern auf die Sprünge. So initiierten sie beispielsweiseeinen Workshop zum Thema „Maschine der Zukunft“. An diesem nahmen ausgewählte und hochkarätige Entscheidungsträger aus der Industrie teil, die gemeinsam diskutierten, was eine ideale Maschine für ihre Kunden sein könnte. Bei der Ideenentwicklung, so die Vorgabe, sollte es keine Rolle spielen, was derzeit technisch umsetzbar ist und was nicht.

Gewonnen wurden damit Einsichten, die der Verband mittlerweile der ganzen Branche zugänglich macht. Denn die Unternehmen verstehen an dem Beispiel „Maschine der Zukunft“ sehr gut, dass sie größer denken und handeln müssen, wenn sie ihren internationalen Wettbewerbsvorsprung beibehalten und ausbauen wollen. Mit der Vision kommen immer auch die technischen Antworten. Jedenfalls in einem Land der Entwickler und Tüftler.

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