Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen.
Jahrelang haben deutsche Kritiker der Europäischen Zentralbank gewarnt, dass die unkonventionelle Geldpolitik zu immer mehr Inflation führen werde. Jahrelang ist nichts passiert. Stattdessen ist der Preisauftrieb in der Eurozone auf jetzt nur noch 0,3 Prozent zurückgegangen. Selbst Deutschland hat es noch nie zuvor eine so lange Phase einer stabil niedrigen Inflationsrate erlebt wie seit dem Start des Euro Anfang 1999.
Statt der Europäischen Zentralbank (EZB) täglich mit einem Gottesdienst vor ihrem Standort an der Frankfurter Kaiserstraße für diese außerordentliche Preisstabilität zu danken, haben die deutschen EZB-Kritiker jetzt ein neues Schreckensthema gefunden. Sie werfen der EZB vor, sie würde zu einer „Bad Bank“ verkommen, zu einem Sammelbecken für Kreditverluste, für die dann letztlich der deutsche Steuerzahler aufkommen müsse.
Das ist erneut ziemlich unsinnig. Die von den Tatsachen längst widerlegten Inflationspropheten hatten in den letzten fünf Jahren schlicht übersehen, dass nach einer tiefen Finanzkrise die verängstigten Bürger, Unternehmen und Banken mehr Vorsichtskasse halten wollen als zuvor. Deshalb muss es ein höheres Liquiditätsangebot geben, um diese Nachfrage zu befriedigen. Ansonsten drohen Rezession und Deflation. Die „Schrottbank“-Panikpropheten machen heute einen ähnlichen Fehler. Sie schauen nur darauf, ob und wie vermeintliche Risiken zwischen Geschäfts- und Notenbanken umverteilt werden könnten. Sie vernachlässigen dabei, ob durch die entsprechende Notenbankpolitik die gesamtwirtschaftlichen Risiken zu- oder abnehmen.
EZB-Politik minimiert Risiken
Zu den grundlegenden Erkenntnissen der Volkswirtschaftslehre gehört es, dass Einkommen und Wohlstand keine vorgegebenen Größen sind, die es einfach nur umzuverteilen gilt. Auch gibt es kein festes Arbeitsvolumen, dass durch eine 35-Stunden-Woche oder eine Vorruhestandsregelung zugunsten von Arbeitslosen umgeschichtet werden könnte. Nein, wie viel Einkommen und Wohlstand geschaffen werden und wie viele Arbeitsplätze es gibt, wird nicht von der Natur vorgegeben. Es hängt stattdessen vor allem vom Fleiß der Menschen und von der Wirtschaftspolitik ab, die es den Menschen entweder erleichtert oder erschwert, Arbeit zu finden und sich Einkommen und Wohlstand zu erarbeiten.
Auch für Risiken gilt, dass ihr Ausmaß nicht naturgegeben ist. Durch eine angemessene Geldpolitik verringert eine Notenbank das Risiko, dass eine Wirtschaft in eine Rezession fallen oder sogar in eine Deflation abgleiten kann. Indem sie dies tut, mindert sie auch die Risiken für Steuerzahler einschließlich der deutschen Steuerzahler.
Was steckt hinter dem Vorwurf, die EZB würde zu einer Schrottbank? Unsere Währungshüter möchten ihren geldpolitischen Stimulus ausweiten, indem sie besicherte Anleihen und Pfandbriefe kaufen. Diese Entscheidung macht Sinn. Schließlich ist die Inflationsrate mit nur noch 0,3 Prozent weit vom Zielwert von „unter aber nahe bei 2 Prozent“ entfernt. Putins Krieg gegen die Ukraine und andere geopolitische Schocks haben den kurzfristigen Ausblick für die Euro-Konjunktur erheblich eingetrübt. Im aktuellen Datenkranz weist nichts auf einen nennenswerten Anstieg der Inflationsrate in den kommenden Jahren hin.
Steuerzahler müssen keine Verluste befürchten
In einer solchen Lage muss die EZB, um ihrem Mandat zu genügen, mit den Mitteln der Geldpolitik gegenhalten, um Rezession und Deflation zu vermeiden. Mit Zinsen nahe Null und ausgesprochen großzügigen Finanzierungsangeboten für Banken sind die üblichen Instrumente der Geldpolitik aber nahezu ausgereizt. Deshalb ist der Kauf von Anleihen der nächste logische Schritt. Wenn die EZB stattdessen tatenlos zusähe, wie die Wirtschaft weiter in Richtung einer Rezession und Deflation abrutschte, würde sie gegen ihr eindeutiges Mandat verstoßen.
Müssen Steuerzahler jetzt Verluste befürchten? Wohl kaum. Das Gegenteil dürfte eher zutreffen. Die EZB handelt auch im Interesse der Steuerzahler. Denn die Zentralbank wird zinstragende Titel kaufen mit neuem Geld, das sie nahezu kostenlos selbst schöpfen kann. Im Ergebnis winken der EZB zusätzliche Zinsgewinne, die weitgehend bei den nationalen Notenbanken der Mitgliedsländer anfallen werden. Sobald die Bundesbank ihren erklecklichen Anteil von 27 Prozent an den deutschen Finanzminister ausschüttet, kommt dies auch dem deutschen Steuerzahler zugute.
Aber geht die EZB mit dem Kauf verbriefter Kredite und gedeckter Anleihen nicht ein großes Risiko ein? Nein. Natürlich sind die Risiken im wahren Leben nie gleich Null. Aber der geläufige Vergleich mit den Risiken und Verlusten aus US-Subprime-Papieren, die zu den Brandbeschleunigern der großen Finanzkrise vor sechs Jahren wurden, ist absurd. Denn derartige Papiere gibt es in Europa praktisch gar nicht. Für strukturierte Finanzaktiva in Europa betrug die Ausfallrate von Mitte 2007 bis zum Herbst 2013 insgesamt nur 1,5 Prozent, obwohl der Weltfinanzinfarkt von Ende 2008 und auch die Eurokrise in diesen Zeitraum fielen. Für ABS-Papier aus den USA einschließlich der berüchtigten Subprime-Papiere erreichte die Ausfallquote dagegen für diesen Zeitraum 18,4 Prozent. Weniger als zehn Prozent der von Ratingagenturen bewerteten ABS-Papiere in Europa haben Ramschstatus. In den USA gilt dies dagegen für mehr als die Hälfte der Titel.
Die EZB will sich bei ihren Anleihekäufen zudem auf solche Papiere konzentrieren, für die Ausfallquoten besonders gering waren. Dazu gehören Pfandbriefe mit Ausfallquoten von nur 0,1 Prozent.
EZB kauft keinen Ramsch
Zudem will die EZB einige Vorkehrungen treffen, um ihre Bilanzrisiken weiter einzugrenzen. Erstens wird sie fast nur Papiere guter Bonität („Investment Grade“) kaufen, also keinen „Ramsch“. Mehr als 90 Prozent der entsprechenden Anleihen in Europa erfüllen dieses Kriterium. Zweitens würde die EZB nur einfach gestrickte Titel erwerben, deren Risiken deshalb relativ transparent sind. Und obwohl sie drittens auch Papiere aus den Krisenstaaten Griechenland und Zypern erwerben möchte, wird sie dies nur tun, wenn die Länder sich weiterhin einem europäischen Reformprogramm und damit der Kontrolle der EU unterwerfen.
Dass sich die EZB auf vergleichsweise risikoarme Titel beschränken wird, ist aber nicht das wichtigste Argument. Noch wichtiger ist der Punkt, dass die EZB mit einer angemessenen Geldpolitik dazu beiträgt, gesamtwirtschaftliche Risiken zu begrenzen. Das sichert Arbeitsplätze und verhindert Steuerausfälle sowie Unternehmensinsolvenzen und übermäßige Kreditausfälle. Eine angemessene Geldpolitik, die der gesamtwirtschaftlichen Lage und dem Mandat der EZB entspricht, ist ganz im Interesse der deutschen Wirtschaft, der deutschen Arbeitnehmer und der deutschen Steuerzahler. Die EZB betreibt eine in diesem Sinne angemessene Geldpolitik.