Anzeige

Interview „Die Corona-Krise ist die Renaissance staatlicher Fiskalpolitik“

Moritz Schularick ist Ökonomie-Professor an der Universität Bonn und Direktor des dortigen MacroFinance Lab.
Moritz Schularick ist Ökonomie-Professor an der Universität Bonn und Direktor des dortigen MacroFinance Lab.
© Julia Sellmann
In der Corona-Krise nimmt die Bundesregierung in großem Umfang Staatsschulden auf. Capital hat mit Ökonom Moritz Schularick darüber gesprochen, was das langfristig bedeutet und ob uns nun eine Schuldenkrise droht

Moritz Schularik ist Professor für Makroökonomie an der Universität Bonn und Forschungsprofessor an der New York University. Er ist Direktor des MacroFinance Labs und ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er forscht zu Finanzmärkten, den Ursachen von Finanzkrisen und Wirtschaftsgeschichte und berät unter anderem Zentralbanken und internationale Organisationen.

Die Bundesregierung plant in Ihrem Etat für 2021 eine Verschuldung von fast 180 Milliarden Euro. Viele fragen jetzt: Können wir uns das überhaupt leisten? Sie sagen: Ja, das können wir. Warum?

Wir haben gerade eine Situation an den Finanzmärkten, die es uns erlaubt, diese Schulden zu sehr günstigen Konditionen aufzunehmen – und das auch über viele Jahre hinweg, sodass die Schulden, die wir irgendwann abtragen müssen, zunehmend durch Wachstum und Inflation abbauen. Staatsschulden sind in dieser Krisensituation sogar sinnvoll, weil wir so verhindern können, dass die Wirtschaft noch stärker einbricht und deshalb die Schuldenquote relativ zur Wirtschaftsleistung noch mehr steigt.

Welche Folgen wird die Corona-Rezession kurzfristig für die Staatsverschuldung haben?

Wir sind in der absurden Situation, dass wir mit dem Schulden-Machen gerade Geld verdienen – in diesem Jahr rund zwei Milliarden Euro. Der Finanzmarkt ist bereit, dem deutschen Finanzminister Geld zu geben und ihn auch noch dafür zu bezahlen. Das ist im Prinzip eine Einladung, Geld zu machen. Kurzfristig gibt es keine Frage, dass das, was das deutsche Finanzministerium federführend umgesetzt hat, ökonomisch richtig und sinnvoll war. Deutschland erntet zu Recht Lob und Anerkennung für seine makroökonomische Stabilisierungspolitik. Die Wirtschaft würde ohne diese staatlichen Stützungsmaßnahmen sehr viel stärker einbrechen. Es würde sehr viel größere strukturelle Schäden geben, weil Unternehmen pleite gehen und Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze verlieren würden.

War der starke Anstieg der Staatsschulden also alternativlos?

Auf makroökonomischer Ebene haben wir zwei Stabilisierungswerkzeuge, die wir benutzen können: die Geldpolitik und die Fiskalpolitik. Die Zinsen sind bei null, die Geldpolitik hat getan, was sie tun kann. Wir haben nach der Finanzkrise gelernt, dass die Fiskalpolitik, wenn die Geldpolitik am Maximum ist, eine zentrale Stabilisierungsrolle spielt. Gerade in Europa hat in den letzten Jahren die Tatsache, dass wir eher vorsichtig waren, zu der schwächeren Wachstumsentwicklung beigetragen. Aus makroökonomischen Gründen war es nicht optimal, dass man in Europa nach der Finanzkrise zu schnell Haushalte zusammengestrichen hat, ohne dass die Privatwirtschaft schon wieder so gesund war, dass sie in die Bresche hätte springen können.

Welche Folgen erwarten uns langfristig durch die Staatsschulden?

Ich gehe davon aus, dass die Wirtschaft im nächsten Jahr wieder wachsen wird. Ob wir im nächsten Jahr schon wieder dahin zurückkommen, wo wir vor der Krise einmal waren, ist noch nicht klar, aber ich wäre eher optimistisch. Es ist jetzt wie ein einmaliger Schock und den gleichen wir aus, indem wir uns bei uns selbst verschulden.

Auf die Lehman-Krise folgte damals mit zeitlicher Verzögerung die Euro-Krise. Droht uns in zwei, drei Jahren nun eine weltweite Schuldenkrise?

Da muss man differenzieren. Ich denke, für Deutschland und auch für andere Industrienationen ist die Antwort ganz klar: Nein. Mit dem gegenwärtigen Zinsniveau ist die Tragfähigkeit der Schulden langfristig überhaupt kein Problem. Diese ganze Diskussion um eine Tilgung und Steuererhöhungen ist komplett unnötig. Unter sehr konservativen Annahmen, was die Wachstumsrate für Deutschland nach Corona angeht, reduziert sich die Schuldenquote wieder von ganz alleine. Es ist gerade eine alarmistische Diskussion im Gange, die ökonomischen Grundlagen entbehrt. Die Schuldentragfähigkeit Deutschlands ist außer Frage und daran ändert auch Corona nichts.

Das heißt, sie würden Olaf Scholz zustimmen, wenn er sagt: „Wir werden aus der Krise herauswachsen“?

Ja, zu einhundert Prozent. Wir haben Glück im Unglück: Die Krise kam zu einem Zeitpunkt, an dem die internationalen Finanzmärkte einen Riesen-Hunger auf deutsche Staatsanleihen haben, sodass wir diese mit Null- oder negativen Zinsen verkaufen können und uns so spottbillig finanzieren können. Weil die Zinsen so niedrig sind, sind auch unsere Schuldendienstbelastungen niedrig und das macht es sehr einfach, aus den Schulden wieder herauszuwachsen.

Wenn Industrienationen von einer Schuldenkrise weniger bedroht sind, wie steht es um Schwellen- und Entwicklungsländer?

Es gibt eine ganze Reihe von Ländern im globalen Süden – Argentinien und der Libanon sind vielleicht die prominentesten Beispiele –, die im Moment schon Schuldendienstschwierigkeiten haben. Aber sobald das Stillhalteabkommen der öffentlichen Gläubiger abläuft, werden weitere Entwicklungsländer und Schwellenländer in Schwierigkeiten kommen. Bei den Schwellenländern hat sich aber im letzten Jahrzehnt relativ viel getan, weil sie sich in ihrer eigenen Währung verschulden können und das auch getan haben, sodass sie nicht mehr ganz so stark von den Finanzierungsbedingungen und den Zinsen an den Finanzmärkten abhängig sind. Grundsätzlich gilt auch hier: Die Zinsen sind historisch so niedrig, dass die Situation für Schuldner relativ zu vorherigen Krisen besser ist.

Welche Rolle kommt der Geldpolitik in den kommenden Jahren zu? Sind wir längst in einer neuen Ära, in der Staatsschulden durch Notenbanken getragen werden?

Wir sind in einer Situation, in der die Nachfrage nach sicheren Anlagemöglichkeiten sehr hoch ist. Als Volkswirtschaftslehre haben wir zwar noch nicht ganz verstanden, warum das so ist, aber es ist klar, dass es sich um ein internationales Phänomen handelt, das nichts mit der EZB zu tun hat. Das hat strukturelle Ursachen und ist nicht von der Geldpolitik gesteuert. Zentralbanken können zwar kurzfristig Zinsen beeinflussen, aber nicht zehn, zwanzig oder dreißig Jahre in die Zukunft. Aber auch auf diese Laufzeiten sind die Zinsen niedrig. Das macht Schuldentragfähigkeit einfach. Wenn wir eine Verzinsung von null haben, können wir uns im Prinzip mehr Staatsschulden leisten. Man muss vorsichtig sein und sollte sich für künftige Krisen einen Spielraum lassen. Aber es gibt keinen vernünftigen Grund, jetzt vorschnell auf die Bremse zu treten, weil man Angst um die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung haben müsste.

Welche Gefahr sehen Sie dort?

Das größte Risiko besteht jetzt darin, zu früh auf die Bremse zu treten und unter Umständen die Probleme im Unternehmenssektor durch ein übertrieben schnelles Zurückfahren dieser expansiven Fiskalpolitik zu verstärken. Wenn wir die Hilfen zu schnell auslaufen lassen, besteht die Gefahr, dass die Konjunktur auch im Rest von Europa noch nicht stabil genug ist und wir wieder in eine kleine Rezession abgleiten oder eine sehr schleppende Erholung erleben. Wir würden die Fehler wiederholen, die wir nach der Euro-Krise gemacht haben, bei denen wir jetzt verstehen, dass es die falsche Politik war. Die hat uns ein Jahrzehnt Wachstum in Europa gekostet.

Durch die üppigen Staatshilfen steigen nicht nur die Staatsschulden, sondern auch die Verschuldung von Unternehmen, die Notkredite aufnehmen. Nun gibt es schon Warnungen vor einer Zombiewirtschaft. Ist das eine realistische Gefahr?

Die Gefahr, dass sich auf gesamtwirtschaftlicher Ebene viele Zombieunternehmen herausbilden, ist eher gering. Wir haben ein funktionierendes Rechtssystem, das dazu führt, dass insolvente Firmen aufgelöst werden und wir haben Mechanismen, mit denen wir die Verschuldung von Unternehmen restrukturieren können. Das Problem nach 2008 war, dass die Verschuldung bei den Haushalten lag. Die Schulden von Millionen von Haushalten zu restrukturieren, ist fast unmöglich. So haben dann Millionen gleichzeitig angefangen zu sparen und das ist konjunkturelles Gift. Jetzt sind es nicht die Haushalte, sondern Unternehmen, die verschuldet sind. Diese Schulden lassen sich restrukturieren. Ist ein Unternehmen überschuldet und wird restrukturiert, dann werden aus volkswirtschaftlicher Sicht nur Ansprüche von Eigen- und Fremdkapitalhaltern ausgetauscht. Das ist schmerzfrei möglich.

Wenn Sie die Corona-Krise in die historische Perspektive setzen – wie ist sie in Bezug auf ihre Wirtschaftsfolgen einzuordnen?

Wir stecken noch mitten in der Krise. Ich denke, es ist eine besondere Krise. Sie hat die Volkswirtschaft von außen getroffen und man kann niemandem vorwerfen, an der Krise Schuld zu sein. Ich denke, es wird im Nachhinein herausstechen, in welchem Umfang es möglich war, über Fiskalpolitik – also Neuverschuldung und Defizite – die Volkswirtschaft zu stabilisieren. Wir haben gemerkt, wie wirkmächtig und wichtig staatliche Fiskalpolitik als Stabilisierungsmechanismus sein kann. Das war etwas, das wir nach der letzten Krise noch nicht ganz verstanden hatten. Wir haben gelernt, dass wir in solchen Krisen mutig sein müssen und können. Ich denke, die Corona-Pandemie wird in den Geschichts- und Lehrbüchern stehen als die Renaissance aktiver, staatlicher Fiskalpolitik.

Mehr zum Thema

Neueste Artikel