Es sieht nicht gut aus für die Automobilindustrie. Sollte die Politik nicht bald gegensteuern, befürchtet der Verband der Automobilindustrie (VDA) eine zunehmende Verlagerung der Zulieferproduktion ins Ausland. Abwanderung sei für die Unternehmen eine Option, weil sie mit ihren Produkten international wettbewerbsfähig seien, sagte VDA-Präsidentin Hildegard Müller der „Augsburger Allgemeinen“. „Der Standort ist es derzeit für viele Unternehmen nicht.“
Wie ernst ist die Lage? Die Krise durch den Wandel zur Elektromobilität stellt alle Unternehmen der Branche vor große Herausforderungen. Mit den Autoherstellern sind auch die Zulieferer in den Abwärtsstrudel geraten. Ob Continental, ZF Friedrichshafen, Bosch, Schaeffler oder Brose: Zehntausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Und keine Woche vergeht ohne neue Hiobsbotschaften. Ist die nächste Eskalationsstufe nun der Verlust der Produktion in Deutschland?
Ferdinand Dudenhöffer sieht die Lage ernst. Der Standort Deutschland habe für die Branche dramatisch an Attraktivität verloren, sagt der Leiter des privaten Bochumer Instituts Center Automotive Research (CAR) im Gespräch mit ntv.de. Es sei jedoch nicht die erste Abwanderungswelle in der deutschen Autoindustrie. „Wir beobachten seit 20 Jahren eine Abwanderung aus Deutschland an billigere Standorte, vor allem durch die Osterweiterung der EU.“
Verlagerungen lassen sich „selten vermeiden“
„Wir haben deutsche Autohersteller in Polen, Ungarn und Tschechien. Ford produziert seit zehn Jahren in Bursa in der Türkei“, so der Branchenkenner. Schon damals seien die Zulieferer den Herstellern gefolgt. „Auch Bosch hat ein großes Werk in Bursa.“ Auch Autoexperte Frank Schwope weist darauf hin, dass es diese Verlagerungen ins Ausland seit Jahrzehnten gibt. Sie ließen sich „selten vermeiden“, wie der Dozent an der Fachhochschule des Mittelstands Hannover Automobilwirtschaft gegenüber ntv.de sagt. Er sieht dafür auch hausgemachte Gründe: „Jahrelange Strukturanpassungen wurden nicht angegangen, auch weil Corona zu Verzerrungen und teilweise exorbitanten Gewinnen geführt hat.“
Dudenhöffer befürchtet jedoch, dass die neue Abwanderungswelle, die sich seiner Meinung nach anbahnt, eine andere Qualität haben wird. Sie wird die deutsche Wirtschaft härter treffen, ist er überzeugt. Er verweist dabei auf einen wesentlichen Unterschied zu vorherigen Standortverlagerungen: „Bei der ersten Welle sind die Entwicklungsabteilungen – das Gehirn der Unternehmen – in Deutschland geblieben“, sagt Dudenhöffer. Heute sei das anders. Überall würden jetzt Entwicklungsabteilungen im Ausland aufgebaut.
Die Entwicklung wird laut Dudenhöffer auch vor anderen Branchen nicht Halt machen. Auch die Maschinenbauer, die die Anlagen und Maschinen für die Autoindustrie bauen, seien auf dem Rückzug. Die Gründe seien für alle Unternehmen gleich: „Deutschland versinkt im Sumpf: Wir haben Migrationsprobleme, Steuerprobleme, die teuerste Energie der Welt. Wir haben keine Strategie und machen bestenfalls kleine, kurzfristige Programme.“
Verlagerung wohin? Nach Europa, in die USA oder China?
Für den Autoexperten Schwope wäre eine erneute Abwanderung nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder in die Türkei „nicht unrealistisch“. Dudenhöffer hält dagegen Standorte in den USA oder China für attraktiver als Standorte in Osteuropa. China punkte vor allem bei der Digitalisierung. „Die Möglichkeiten, dort etwas zu entwickeln und neue Produkte herzustellen, sind um Lichtjahre besser als bei uns.“ Anders als die USA wachse China auch, weil es Geschäftsbeziehungen mit Afrika und anderen asiatischen Ländern pflege.
Die Einschätzung, China könnte ein mögliches Ziel sein, teilt Schwope nicht. Für ihn ist „die große China-Welle“ aufgrund der Rahmenbedingungen „eher vorbei“. Die USA stehen nach einhelliger Meinung der Experten noch unter Beobachtung. „Wenn ein Unternehmen ein neues Werk in Nordamerika plant, werden die USA durch Trumps Zollpolitik natürlich interessanter“, räumt Schwope aber ein. BMW und Audi hatten Werke in Mexiko gebaut, um günstig für den US-Markt zu produzieren. Dieses Geschäftsmodell ist tot, wenn Trump seine Zollankündigungen für Mexiko wahr macht. Eine Neuausrichtung könnte notwendig werden.
Die USA hatten bereits mit dem Inflation Reduction Act und der milliardenschweren Förderung von Klimaschutztechnologien viele deutsche Unternehmen in die USA gelockt. Audi, BMW, Schaeffler, Siemens Energy, Aurubis: Die Liste deutscher Unternehmen, die im vergangenen Jahr große Investitionen in den USA angekündigt oder bestehende Standorte ausgebaut haben, ist lang. Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer plante im vergangenen Jahr jedes zehnte Unternehmen eine Produktionsverlagerung in die USA.
„Das ist erst der Anfang des Exodus'“, ist Dudenhöffer überzeugt. Die zweite Welle rolle an, aber keiner habe es bislang bemerkt. Dabei könnten die Folgen dramatisch sein: Deutschland droht „auszubluten“, warnt er. Die Entwicklung umzukehren, den Standort wieder aufzubauen, werde „unendlich schwer“. Ähnlich hatte sich kürzlich auch der Vorsitzende des oberfränkischen Automobilnetzwerks ofrCar e.V., Timo Piwonski, geäußert. „Man muss leider sagen, dass die Koffer gepackt sind und sich viele Unternehmen intensiv mit Abwanderung und Verlagerung von Produktionsprozessen beschäftigen.“ Auch er ist überzeugt: Wenn Unternehmen den Standort Deutschland verlassen, ist mit ihrer schnellen Rückkehr nicht zu rechnen.
Das sind Deutschlands größte Autozulieferer
Die deutschen Automobilzulieferer werden laut einer Studie im globalen Wettbewerb gerade um Jahrzehnte zurückgeworfen. Sie haben laut der Analyse von Strategy&, der Strategieberatung von PwC, seit 2019 rund 2,7 Prozentpunkte Weltmarktanteil eingebüßt – „so viel, wie sie zuvor in 20 Jahren mühsam hinzugewinnen konnten“, hieß es. In den Top 10 für die DACH-Region gab es demnach drei Aufsteiger. Die Benteler International AG hingegen konnte sich gerade eben noch in der Spitzengruppe halten. Sie stieg mit einem Umsatz von 9,0 Mrd. Euro im Geschäftsjahr 2022 im Ranking vom siebten auf den zehnten Platz ab. Die 1876 gegründete Holding ist in 26 Ländern unter anderem in den Bereichen Automobiltechnik und Stahlproduktion tätig.
„Keine Daten zu vorheriger Platzierung vorhanden“, hieß bei der Vitesco Technologies Group AG und zwei weiteren Unternehmen der Top 10. Der Lieferant von Antriebstechnologien für alle Fahrzeugtypen belegte mit einem Jahresumsatz von 9,1 Mrd. Euro Platz neun. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Regensburg beschäftigt nach eigenen Angaben rund 38.000 Mitarbeitende an rund 50 Standorten.
Mit Freudenberg & Co. findet sich eine weitere traditionsreiche Unternehmensgruppe in Familienhand in dem Ranking der größten deutschen Autozulieferer. Die 1849 gegründete Firma ist mittlerweile Anbieter von Tausenden anspruchsvoller Anwendungen – „vom Auto bis zur Kraftwerksturbine, von Oberbekleidung bis zum Reinigungsroboter“, wie es auf der Unternehmensseite hieß. Strategy& hat Unternehmen mit mindestens 50 Prozent Umsatzanteil im Automobilsektor berücksichtigt. Auf Platz acht hatte im Vorjahr Knorr Bremse gelegen. Nun reichte es lediglich für den zwölften Platz.
Die Mahle GmbH aus Stuttgart fertigt unter anderem Kolben und Zylinder für Verbrennungsmotoren. Das 1920 gegründete Unternehmen fiel in dem Ranking vom sechsten auf den siebten Platz. Der Umsatz lag laut dem Zulieferer zuletzt bei 12,4 Mrd. Euro.
Auch der deutsche Halbleiterhersteller Infineon war im Vorjahr nicht auf der Liste der größten Autozulieferer aufgetaucht. Im Ranking zum Geschäftsjahr 2022 aber reichte ein Umsatz von 14,2 Milliarden Euro für Platz sechs. Wie bereits erwähnt: Das Ranking berücksichtigt dabei den gesamten Umsatz eines Unternehmens, nicht nur das Geschäft mit der Automobilbranche.
TE Connectivity ist im Ranking der größten Automobilzulieferer des DACH-Raums der einzige nichtdeutsche Vertreter. Der Schweizer Konzern aus Schaffhausen mit Wurzeln in den USA handelt insbesondere mit Sensoren und Steckverbindern. Die elektrischen und elektronischen Bauelemente stecken laut dem Hersteller in E-Autos, Flugzeugen, Fabriken, Krankenhäusern sowie Versorgungs- und Kommunikationsnetzen. Ein Umsatz von 15,1 Mrd. Euro bedeutete wie im Vorjahr Platz fünf. In einem deutschen Ranking würde Brose Fahrzeugteile aus Coburg den zehnten Platz belegen.
Die Top 4 der größten deutschen Automobilzulieferer blieb dieselbe wie im Geschäftsjahr 2021. Platz vier ging erneut an die Schaeffler-Gruppe in Herzogenaurach (Umsatz: 15,8 Mrd. Euro). Die von Maria-Elisabeth Schaeffler und ihrem Sohn Georg Friedrich Wilhelm Schaeffler geführte Unternehmensgruppe produziert unter anderem Kupplungssysteme und Getriebeteile für die Automobilbranche, ist aber auch Zulieferer der Maschinenbauindustrie. Ein Schwesterunternehmen belegte Platz drei im Ranking.
Die Schaeffler-Gruppe ist der größte Einzelaktionär der Continental AG auf Platz drei. Das 1871 gegründete Unternehmen mit Sitz in Hannover sicherte sich dank 39,4 Mrd. Euro Umsatz erneut Platz drei im Ranking der größten deutschen Autozulieferer.
Was 1915 als Zahnradfabrik Friedrichshafen begann (ein Gründer war die Luftschiffbau Zeppelin GmbH), hat sich als ZF Friedrichshafen AG zu einem Technologiekonzern entwickelt, der in 32 Ländern produziert. ZF Friedrichshafen liefert Systeme für Pkw, Nutzfahrzeuge und Industrietechnik. „ZF lässt Fahrzeuge sehen, denken und handeln“, wirbt das börsennotierte Unternehmen auf seiner Internetseite. Der Umsatz lag den Angaben zufolge im Geschäftsjahr 2022 bei rund 43,8 Mrd. Euro. Der Spitzenreiter des Rankings kam hingegen auf etwa den doppelten Wert.
Mobilität ist einer von vier Geschäftsbereichen der Robert Bosch GmbH. Der Gesamtumsatz von zuletzt 88,2 Mrd. Euro machte Bosch zur einsamen Nummer eins im Ranking der größten Autozulieferer im deutschsprachigen Raum.
Schwope sieht die Lage weniger dramatisch: Denn vor derartigen Entscheidungen werde gerechnet, sagt er. Werksschließungen seien teuer. „Die Schließung des Audi-Werks in Brüssel zum Beispiel kostet über eine Milliarde Euro, da muss man genau kalkulieren, ob sich das lohnt.“
Deutschland bei Wettbewerbsfähigkeit weit abgeschlagen
VDA-Chefin Müller mahnt dennoch schnelle Reformen an. Die neue Bundesregierung müsse die Wettbewerbsfähigkeit der Branche stärken. Ihr Argument: Wenn die politische Kurskorrektur ausbleibe, „werden die für die Transformation der Automobilindustrie notwendigen Investitionen zunehmend nicht mehr in Deutschland und Europa, sondern anderswo getätigt – mit entsprechend negativen Folgen für Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland und Europa“.
Die deutsche Industrieproduktion ist bereits rückläufig. Und im Ranking der Wettbewerbsfähigkeit ist Deutschland in den letzten zehn Jahren von Platz 6 auf Platz 24 abgerutscht. Die konkreten Forderungen des VDA für eine Trendwende lauten: günstigere Energie, ein wettbewerbsfähiges Steuer- und Abgabensystem, Bürokratieabbau und eine gute Rohstoffversorgung.
Ein Krisengipfel der Automobilindustrie brachte im September keine Ergebnisse. Die Gespräche mit Branchenvertretern werden fortgesetzt. Im Autoland Bayern, wo die beiden Weltmarken Audi und BMW ihren Sitz haben und die Branche insgesamt 140.000 Menschen beschäftigt, lädt die bayerische Staatsregierung am 2. Dezember zu einem Treffen ein. Die Bundesregierung hatte nach dem Septembergipfel angekündigt, aus ihrer Sicht geeignete Maßnahmen rückwirkend umzusetzen.
Der Beitrag ist zuerst bei ntv.de erschienen. Das Nachrichtenportal gehört wie Capital zu RTL Deutschland.