Niestetal bei Kassel ist ein Zentrum der deutschen Solarwirtschaft. Hier sitzt der weltweit erfolgreiche Wechselrichterhersteller SMA Solar. In einem neuen Gewerbegebiet gibt es sogar eine Hermann-Scheer-Straße, benannt nach dem verstorbenen “Solarpapst“ der SPD, der zu den wichtigsten Wegbereitern der Energiewende gehörte.
Ausgerechnet bei SMA Solar fand Sigmar Gabriel allerdings Mitte April drastische Worte zur Energiewende. Er warnte nicht nur, das Projekt stehe „vor dem Scheitern“, wenn nicht schnell und gründlich reformiert werde.
Gabriel attackierte auch frontal ein altes Hauptargument für die Erneuerbaren. Der SPD-Chef und Wirtschaftsminister wörtlich: „Der hehre Anspruch dezentrale Energieversorgung – Autarkie - das ist natürlich der helle Wahnsinn.“
Der „helle Wahnsinn“? „Natürlich“? Eine Vision, für die sich bis heute große Teile Landes begeistern, kann ein Politiker kaum härter abkanzeln. Dezentralität und Autarkie, das war ein Kerngedanke Hermann Scheers, eines promovierten Politologen, der mit seiner Bewegung auch die Macht der Energiekonzerne brechen wollte. Es ist das beliebte Werbeversprechen aus ungezählten Photovoltaik-Spots.
Gabriel macht radikal Schluss damit, weil ihm praktisch keine andere Wahl mehr bleibt. Weil immer klarer wird, dass all die Träume von Autarkie seine Energiewende in Gefahr bringen. Handwerklich, aber auch ganz grundsätzlich.
nicht verlässlich, sondern flatterhaft
Das handwerkliche Problem besteht darin, dass für den Eigenverbrauch von selbst erzeugtem Ökostrom bislang keine EEG-Umlage fällig wird. Die Folge ist, dass die Autarkie zu einer Art neuem Steuerschlupfloch geworden ist. Eines, das am Ende die ganze EEG-Konstruktion bedrohen könnte: Je höher die EEG-Umlage, desto lukrativer die Flucht in Eigenerzeugung und - verbrauch; je mehr Eigenverbrauch und je weniger EEG-Zahler, desto höher muss wiederum die Umlage für die verbleibenden Stromkunden ausfallen; desto lukrativer wiederum die Flucht...usw.
Gabriel ist innerhalb der Logik des EEG letztlich gezwungen, dieses Schlupfloch irgendwie abzudichten. Auch wenn die Betroffenen in diesen Tagen in Aufruhr sind und viele sich betrogen fühlen.
Ganz abgesehen von der EEG-Mechanik bleibt aber auch noch das grundsätzliche Problem: Die Stromproduktion aus Wind und Sonne ist nicht verlässlich, sondern flatterhaft. Eine stabile Versorgung ist damit überhaupt nur erreichbar, wenn die einzelnen Erzeuger über möglichst große, möglichst „intelligente“ Netze verbunden werden. Nur so lassen sich die lokalen Produktionsspitzen und -täler jeweils ausgleichen. Nur so ist auch irgendwann das Ziel zu erreichen, den Stromverbrauch der Konsumenten zu steuern und dem gerade verfügbaren Angebot anzupassen.
Lebenslüge der Energiewende
Gabriel hat mit seinem drastischen Urteil völlig Recht. Das charmante Autarkie-Versprechen, die Verheißung eines dezentralen „small is beautiful“, ist eine Lebenslüge des Großprojekts Energiewende. Selbstverständlich kann die Selbstversorgung unter Umständen eine perfekte Technik sein – das Solarpanel auf der abgelegenen Hütte ist dafür das klassische, aber keineswegs einzige Beispiel. Die 24-Stunden-Komplettversorgung einer Industriegesellschaft lässt sich so aber auch in Zukunft nicht sichern.
Wahnsinn eigentlich, dass ein deutscher Spitzenpolitiker das mal öffentlich sagt.