Nur sehr wenige Leute sind Marxisten geworden, weil ihnen „Das Kapital“ die Erleuchtung gebracht hat. Die meisten Leser haben sich auf das große Werk des Meisters gestürzt, weil sie schon vorher von Marx’ politischer Grundidee angetan waren: Der Kapitalismus ist von Übel.
Etwas sehr Ähnliches passiert in diesen Tagen mit dem Opus Magnum des Pariser Ökonomen Thomas Piketty, „Capital in the 21st century“. Das Buch, dessen englische Ausgabe im März erschien und seit Kurzem auch bei uns im Handel ist, wird in Teilen der angelsächsischen Welt geradezu euphorisch gefeiert. Paul Krugman und der „Economist“ preisen es, die britische Labour-Opposition und die amerikanische Obama-Regierung promoten es nach Kräften.
In den USA hat Pikettys 650-Seiten-plus Anhang-Wälzer sogar schon Platz eins im Amazon-Verkaufsranking erobert, der kleine Verlag Belknap Harvard kämpft mit Lieferproblemen. Vom neuen „Harry Potter der Ökonomie“ ist die Rede.
Ein wichtiges und ein lesenswertes Buch
Ein Vergleich mit der Bibel wäre vielleicht noch passender: Pikettys „Capital“ wird inzwischen gehandelt als das Buch der Bücher für eine neue linke Politik. Als das große Referenzwerk, das zwar niemand ganz gelesen haben muss. In dem aber mit der höchsten Autorität – in diesem Fall der Wissenschaft - alle entscheidenden Fragen behandelt sind. Und in dem die Unausweichlichkeit der eigenen Position belegt wird.
Anders als beim alten Polit-Propheten Marx geht es hier natürlich nicht um das Ziel der Weltrevolution, sondern – ganz pragmatisch - nur um höhere Reichensteuern. Anders als Marx formuliert Piketty auch nicht mit dem Anspruch der ewigen Wahrheiten, sondern sympathisch relativierend. Nicht zornig und zynisch, sondern vorsichtig und freundlich. Und anders als Marx ist Piketty auch hervorragend lesbar – wenn man von der erschlagenden Menge des Stoffs einmal absieht.
„Capital in the 21st century“ ist ohne Zweifel ein wichtiges und ein lesenswertes Buch. Den politisierten Hype, der nun darum gemacht wird, hat es trotzdem nicht verdient. Dafür sind Pikettys konkrete Forderungen dann eben doch nicht zwingend genug begründet.
Die Fragen, die er aufwirft, sind erheblich interessanter als die politischen Lösungen, die er am Ende anbietet – und die ein Großteil seiner neuen Fans ja ohnehin schon vorher kannte.
Ein wissenschaftlicher Meilenstein ist dieses Buch schon wegen der darin gesammelten Fakten: Piketty hat über viele Jahre recherchiert und rekonstruiert, wie sich die Vermögen und Einkommen in den großen Industrieländern im Laufe der Geschichte entwickelt und verteilt haben. Anhand dieser Daten erzählt er dann noch einmal gute 200 Jahre westlicher Wirtschafts- und Sozialgeschichte neu: Als den Aufstieg, den Niedergang und die mögliche Wiederkehr einer dominanten Elite von Vermögenden.
Droht eine neue Ungleichheit
Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts führte im Laufe der Zeit zu einer extremen Ungleichheit der Einkommen, die vor allem darauf beruhte, dass die Einkünfte aus Vermögen immer mehr Gewicht bekamen und sich auf einen kleinen Kreis von Besitzenden konzentrierten. So entstand eine Klasse von Rentiers und Erben, die in der Belle Époque überaus bequem von ihren Kapitalerträgen leben konnte und die zugleich den politischen und ökonomischen Ton angab.
Die Karrierekalküle in diesem „Erbschaftskapitalismus“ macht Piketty anschaulich, in dem er immer wieder aus der Literatur der Zeit zitiert, aus den Romanen Balzacs oder Jane Austens. Den entscheidenden Mechanismus der Einkommenskonzentration fasst er in die Formel „r >g“: Weil die Kapitalrendite (r) erfahrungsgemäß höher sei als das Wirtschaftswachstum (g), könne sich das Vermögen schneller vermehren als die gesamtwirtschaftliche Leistung. Weshalb die Macht der Kapitalbesitzer wächst und wächst.
Dass es im 20. Jahrhundert dann doch ganz anders gekommen ist, erklärt Piketty vor allem mit den Kriegen und ihren Folgen: Große Vermögen wurden zerstört oder enteignet, ein erstarkender Sozialstaat korrigierte die Verteilung und bremste die Kapitalrendite. Zudem zog das Wirtschaftswachstum im Nachkriegsboom enorm an - getrieben von einer wachsenden Bevölkerung, dem Wiederaufbau und dem Aufschließen Europas zu den technologisch führenden USA.
Pikettys große Sorge ist, dass diese Epoche der gemäßigten Ungleichheiten nur ein Ausreißer bleiben könnte. Und dass der alte „Erbschaftskapitalismus“ bald mit mathematischer Unausweichlichkeit zurückkehrt. Denn wenn das Wachstum erlahmt und zugleich die Kapitalisten von der Politik begünstigt werden, dann gilt „r>g“ und die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts können wieder auferstehen: Eine kleine Rentiers-Schicht lebt bequem von ihren immer weiter anwachsenden Riesenvermögen, eine Erben-Oligarchie der obersten „1%“ übernimmt die Macht. Adieu Leistungsprinzip, adieu Mittelschicht, bonjour Klassengesellschaft!
Nur ein Szenario
Ist das nun also endlich der Beweis dafür, dass im Kapitalismus immer „die Reichen reicher und die Armen ärmer werden“? Und dass dagegen nur noch drastisch höhere Reichensteuern helfen?
Über die Armen lässt sich nach der Lektüre des Piketty-Buches kaum etwas Neues sagen, denn um deren Lage geht es darin überhaupt nicht. Dass der Kapitalismus seit seinen Anfängen auch den untersten Schichten dramatische Wohlstandsgewinne gebracht hat, ist eine Tatsache, die hier – so wie in den meisten heutigen Debatten über Ungleichheit – keine größere Beachtung findet.
Umso eindeutiger ist dafür die Warnung, dass „die Reichen immer reicher werden“, sich also ihr Vorsprung gegenüber der breiten Masse immer weiter vergrößert.
Der erste Einwand gegen dieses Horrorszenario ist, dass es eben tatsächlich nur ein Szenario ist. „R>g“ ist kein zwingendes ökonomisches Gesetz, sondern eine Annahme auf der Basis der von Piketty errechneten Erfahrungswerte.
Es bleibt unklar, wie es den Vermögenden gelingen soll, dauerhaft einen risikolosen Realzins einzustreichen, der das Wirtschaftswachstum übersteigt. (Derzeit schaffen es viele nicht einmal, ihr Vermögen inflationsbereinigt zu erhalten.)
Die plakative Rede von „den Reichen“ hat im Übrigen nur eine recht begrenzte Aussagekraft. Was Piketty tatsächlich beschreibt sind ja statistische Aggregate – die Summe der Kapitaleinkünfte, die Gruppe der Spitzenverdiener zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Mega-Vergütung vertieft Ungleichheit
Welche Personen jeweils dahinter stehen, ist eine ganz andere Frage. Von sprudelnden Kapitalerträgen können zum Beispiel auch Arbeitnehmer profitieren, Fonds und andere Instrumente für die breit gestreute Geldanlage stehen längst auch dem Normalsparer offen.
Dass es für altes Geld selbst früher keine Bestandsgarantie gab, lehrt schon der berühmteste deutsche Roman aus dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts: „Buddenbrooks. Verfall einer Familie.“ Vor allem solche Vermögen, die in einem einzelnen Unternehmen gebunden sind, unterliegen stets hohen Risiken.
Auch die Gruppe der Topverdiener, die durch eigene Arbeit – statt durch Kapitalerträge - Spitzeneinkommen erzielen, ist keine starre Clique. Topmanager, Spitzenanwälte oder Showstars verdienen in einzelnen Jahren sehr viel, fallen dann aber auch wieder aus den obersten „1%“ heraus.
Pikettys eigene Forschung zeigt, dass die speziell in den USA stark gestiegene Einkommensspreizung vor allem auf solch einen „Superstar-Kapitalismus“ zurückzuführen war: Nicht „r>g“, nicht das alte Kapital der faulen Erben, sondern die Mega-Vergütung einiger Arbeitskräfte ist der Treiber der neuen Ungleichheit.
Man mag diese Riesengehälter kritisieren und – wie Piketty – bestreiten, dass sie viel mit Leistung zu tun haben. Gegen Selbstbedienung in den Chefetagen gibt es aber weit gezieltere Mittel als eine Strafsteuer für Reiche.
Irreführende Schlussfolgerung
Piketty hat ein imposantes Buch über Kapital und Vermögen geschrieben, doch am Ende drängt sich der Eindruck auf, dass es ihm gar nicht so sehr um das Materielle an sich geht. Geschweige denn um die Wege zum Wohlstand für möglichst viele. Ihn interessieren vor allem die sozialen Hierarchien und die politischen Machtverhältnisse, die eine Gesellschaft und ihre Werte prägen.
Seine Warnung vor einem Rückfall in die Geldaristokratie des 19. Jahrhunderts ist dabei ebenso eindrucksvoll wie grob irreführend. Denn in den Zeiten der Belle Époque gab es praktisch keinen Sozialstaat und der Fiskus kassierte gerade einmal ein Zehntel der nationalen Wirtschaftsleistung. Heute liegt die Steuerquote in einem Land wie Frankreich bei rund 50 Prozent.
Wenn trotzdem bei vielen der Frust wächst, kann das nicht nur am Kapitalismus liegen.