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Europa Der radikale Europaplan von Union und SPD

CDU-Chefin Merkel und der SPD-Vorsitzende Schulz erläutern das Ergebnis der Sondierungsgespräche vor der Presse
CDU-Chefin Merkel und der SPD-Vorsitzende Schulz erläutern das Ergebnis der Sondierungsgespräche vor der Presse
© Getty Images
Das Sondierungsergebnis bedeutet den größten Schritt zur Vertiefung der europäischen Integration seit dem Vertrag von Maastricht. Wolfgang Münchau über die europapolitische Kehrtwende von Union und SPD

Ob das Ergebnis der Sondierungsgespräche für eine Neuauflage der Großen Koalition Bestand haben wird, oder nicht, ist noch lange nicht ausgemacht. Viele Hindernisse sind noch zu überwinden, bevor Deutschland eine neue Regierung bekommt.

Aber wenn die beteiligten Parteien sich dazu durchringen, wären die Christdemokraten unter Angela Merkel und die Sozialdemokraten unter Martin Schulz in einer Hinsicht wahrlich radikal: in ihren Zielen für Europa. Denn sie zeichnen für die EU den größten Schritt in Richtung einer weiteren Integration seit dem Vertrag von Maastricht vor einem Vierteljahrhundert vor.

Der letzte Koalitionsvertrag von 2013 erwähnte Europa bis auf einige Platitüden nur am Rand. Das große Thema war der Mindestlohn. Nun steht im Ergebnis der Sondierungen Europa ganz vorne. Und der Abschnitt ist viel weitreichender als eine allgemeine Bereitschaft, auf den französischen Präsident Emmanuel Macron einzugehen, der Antworten mit Blick auf eine Reform der Eurozone erwartet. Er enthält die Absicht, den deutschen Netto-Beitrag in den EU-Haushalt zu erhöhen, und Union und SPD befürworten ausdrücklich „spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Euro-Zone“.

Ich lese aus dieser Aussage heraus, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) als der Rettungsschirm der Eurozone künftig Teil eines vergrößerten EU-Haushalts werden soll ­ – und nicht, wie bisher, den Mitgliedstaaten untersteht. Das entspricht dem Vorschlag von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der darüber hoch erfreut sein muss. Denn es ist eine beachtliche Abkehr von Merkels intergouvernementaler Linie zu einer gemeinschaftlichen. Ich frage mich nur, was das konservative Lager von CDU und CSU aus dieser Kehrtwende macht.

Schäuble hatte sich stets dagegen gesperrt

Dass Berlin den ESM weiterentwickeln wollte, war uns bekannt. Nicht aber, dass er innerhalb der EU verankert werden soll. Gerade Wolfgang Schäuble hatte sich als Finanzminister dagegen gesperrt, ihn unter die Ägide der EU-Kommission zu stellen. Auch diese Position scheint sich zu ändern.

Das Sondierungsergebnis sieht auch eine Stärkung des Europaparlamentes vor, um die Eurozone demokratischer zu gestalten. Hier gehen die drei Parteien nicht konform mit Präsident Macron, der ein separates Eurozonen-Parlament möchte. Dagegen unterstützt Deutschland ausdrücklich Frankreichs Forderung, Steuer-Dumping einzudämmen und EU-weite Mindestsätze bei den Unternehmenssteuern einzuführen. Der große Showdown zwischen Frankreich und Deutschland einerseits und den Niedrigsteuerländern wie Irland auf der anderen Seite steht also bevor.

Die ersten Seiten der Verständigung sind jedenfalls Balsam auf die Seelen jener, die sich für Maßnahmen stark gemacht haben, um die Eurozone weniger krisenanfällig zu machen.

Die Europa-Passagen tragen deutlich die Handschrift des SPD-Vorsitzenden und ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Die Frage ist jedoch, wie sie bei der Parteibasis ankommen. Wiegt der Enthusiasmus für Europa stärker als die Antipathie gegenüber Merkel? Der Basis missfällt ihr Führungsstil und sie hat es satt, dass Merkel SPD-Positionen übernimmt und zu ihren eigenen erklärt. Die Mehrheit der SPD denkt, dass die gemeinsame Koalition ihnen die Bundestagswahl vermasselt hat. Nicht nur die Jusos wollen eine Erneuerung in der Opposition.

Europäische Agenda mit unsicherem Ausgang

Ich bin kein Fan von großen Koalitionen, die am Ende immer die extremistischen Parteien stärken. Eine Neuauflage wäre – mit einer Mehrheit von 56 Prozent im Bundestag nach 80 Prozent davor ­– auch nicht groß. Kommt sie zustande, wäre sie vermutlich die letzte. Deutschland könnte werden wie die Niederlande, wo sich vier oder fünf Parteien zu einer Regierung zusammenraufen müssen.

Ist es das wert – für eine europäische Agenda mit unsicherem Ausgang? Eine Garantie, dass alle EU-Mitglieder sich einem deutsch-französischen Vorschlag anschließen, gibt es nicht. Einer formalen Vertragsänderung müssten alle Staaten zustimmen. Paris und Berlin können zunächst mit einer Koalition der Willigen beginnen. Die erst vor kurzem gebildete Koalition in Den Haag nennt aber ein diametral entgegengesetztes Ziel: keine weitere Stärkung der Eurozone. Können Frankreich und Deutschland wirklich ohne die Niederlande vorangehen? Oder wird die Regierung umdenken, wenn Berlin es tut?

Gewiss ist, dass noch viele Steine aus dem Weg zu räumen sind. Es wir schwer werden, die Zustimmung des Parteitages am 21. Januar zu erlangen – und ebenso schwer, die Mitglieder zu überzeugen. Noch schwerer wird es, alle 19 Euro-Länder auf Reformen einzustimmen.

Das bemerkenswerteste an dem Kompromisspapier ist aber vielleicht, dass es einen Wechsels signalisiert von Merkels unverbindlichem Management-Stil zu einer stärker programmatisch ausgerichteten Politik. Es steht eine neue Ära bevor.

Copyright The Financial Times Limited 2018

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