Es ist der Moment, auf den alle gewartet haben. Angeführt von Xi schreiten die sieben Top-Kader am Sonntagvormittag Pekinger Zeit im Goldenen Saal der Großen Halle des Volkes vor die wartenden Journalisten, die sich für diesen Anblick zwei Tage in Quarantäne hatten begeben müssen. Und sofort wird den Beobachtern klar: Xi hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt.
Im neuen Ständigen Ausschuss befinden sich ausschließlich loyale Mitstreiter des starken Manns. Das hat es seit der Mao-Ära nicht gegeben: Die direkten Vorgänger Xis hatten stets auch Mitglieder rivalisierender KP-Fraktionen dulden müssen. Viele Beobachter hatten daher erwartet, dass Xi zumindest pro forma einen oder zwei Politiker in das Gremium aufnimmt, die ihm nicht so nahe stehen.
Doch es kam anders. Xi drängte alle hinaus, die nicht zu seinen Loyalisten gehörten. Eine Verjüngung fand nur statt, indem er einige eigene Protegés in den inneren Zirkel aufnahm. Das zeigte sich am deutlichsten beim 63-jährigen Shanghaier Parteichef Li Qiang. Li ging an zweiter Stelle, direkt hinter Xi. Er wird damit ziemlich sicher der nächste Ministerpräsident Chinas. Und das, obwohl er den chaotischen Lockdown in Shanghai zu verantworten hatte – und noch nie Vize-Premier war. Das galt bislang als zentrale Voraussetzung für den Posten des Regierungschefs.
Xi Jinping: Auf dem Weg zum Alleinherrscher
Doch politische Gepflogenheiten und Kriterien stören Xi beim Aufbau einer Ein-Personen-Herrschaft nur. Fachliche Qualifikationen sind in seinem China offenbar zweitrangig, was zählt ist Loyalität. Ganz überraschend ist das Ergebnis des Parteitags zwar nicht. "Doch Xis Griff zur Macht übersteigt unsere Erwartungen. Er ist jetzt wirklich ein moderner Kaiser", twitterte Yang Zhang, Professor an der American University in Washington. Über Jahrzehnte war „innerparteiliche Demokratie“ ein festes Ziel von Chinas Kommunisten – in Xis Arbeitsbericht zum Parteitag aber fehlte der Slogan erstmals seit 45 Jahren, wie das China Media Project feststellte.
10. Parteitag der KP China
Am Morgen hatte das neue Zentralkomitee Xi wie erwartet als Generalsekretär der KP bestätigt. Er hat damit die angepeilte dritte Amtszeit bekommen. Das ZK wählte anschließend das Politbüro aus, dem dieses Mal nur 24 statt 25 Personen angehören und in dem nach dem Abgang von Sun Chunlan erstmals seit einem Vierteljahrhundert keine einzige Frau mehr sitzt. Aus dem Politbüro wiederum rekrutiert sich die eigentliche Machtzentrale, der Ständige Ausschuss des Politbüros. Dieser hat wie zuvor sieben Mitglieder. Vier von ihnen sind neu und allesamt Kader aus Xis Seilschaften: Li Qiang, Cai Qi, Dong Xuexiang und Li Xi. Die interessanteste Personalie ist dabei Cai Qi, der als rücksichtslos geltende Parteichef der Hauptstadt Peking.
Der neue Ständige Ausschuss im Detail:
Neben Xi sind sein Chefideologe Wang Huning sowie Zhao Leji, Chef der mächtigen Disziplinkommission der Partei, die einzigen, die ihren Sitz im Ständigen Ausschuss behalten konnten. Im Folgenden werfen wir einen genaueren Blick auf die sieben Mitglieder, aufgelistet nach Rang:
Xi Jinping 习近平 (69): Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Staatspräsident, Vorsitzender der Zentralen Militärkommission.
Li Qiang 李强 (63): Shanghai ist seit langem Nährboden für KP-Spitzenkräfte: Mit Ausnahme des wegen Korruption gestürzten Chen Liangyu schafften es in den letzten 33 Jahren alle Parteichefs der Metropole in den Ständigen Ausschuss. Bis zu dem furchtbaren Lockdown von Shanghai galt Lis Regierungsweise als solide und technologiefreundlich. Danach war er angezählt. Doch er war einst enger Mitarbeiter Xi Jinpings und gilt als ausgesprochen loyal. Das reichte offenbar. Vielleicht war es auch gerade das rücksichtslose Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung im Auftrag Xis, das ihn qualifiziert hat. Es wird spekuliert, dass Li bald noch für ein paar Monate zum Vizepremier befördert werden könnte, damit er im März Regierungschef werden kann, ohne die Gepflogenheiten zu verletzen, wonach ein Premier erst Vize gewesen sein muss. Ein Gesetz von 2021 erlaubt solche Kabinettsumbildungen mitten in der Legislaturperiode. Es wirkt nun wie auf Li Qiang zugeschnitten.
Zhao Leji 赵乐际 (65): Zhao ist seit 2017 im Ständigen Ausschuss und war bis jetzt als Chef der Disziplinarkommission für Korruptionsermittlungen in der Partei zuständig. Dabei arbeitete er eng mit Xi zusammen und hat in dessen Auftrag zahlreiche innerparteiliche Feinde aus dem Weg geräumt. Auch hat er ebenso wie Xi enge Verbindungen in die Provinz Shaanxi, deren Gouverneur und Parteichef er war. Er spricht mit starkem Shaanxi-Akzent und soll einen vergleichsweise sanften Ansatz im Umgang mit ethnischen Minderheiten haben. Zhao hat umweltbewusste Investitionsprojekte in Angriff genommen. Er wird im März 2023 voraussichtlich vom scheidenden Li Zhanshu (72) den Vorsitz des Nationalen Volkskongresses übernehmen.
Wang Huning 王沪宁 (67): Der Jurist und Politologe hat einen soliden akademischen Hintergrund; sein Forschungsgebiet war unter anderem der Niedergang der politischen Systeme im Westen. Für Xi hatte er die Funktion des Chefideologen, der die Ideen seines Herrn mit Theorien unterfüttert. Er gehörte seinerzeit zur Gruppe von Hu Jintao und arbeitete eng mit dem Ex-Präsidenten zusammen. Ebenso schnell schloss er sich nach 2012 jedoch Xi an. Seine Mitgliedschaft im inneren Zirkel galt als wahrscheinlich. Er wird voraussichtlich Vorsitzender der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (CPPCC).
Cai Qi 蔡奇 (67): Die größte Überraschung in der neuen Top-Führung. Cai war als Vize-Regierungschef der wirtschaftsstarken Provinz Zhejiang dafür bekannt, Volksnähe zu zelebrieren. Xi Jinping war seinerzeit dort Parteichef. Als Parteisekretär der Hauptstadt Peking gab er sich zwar das Image, für einfache Bürger auf Sozialmedien erreichbar zu sein. Tatsächlich stand er hinter einer groß angelegten Aufräumaktion, die sozial schwache Bürger aus dem Stadtbild verdrängt hat. Dazu ließ er ganze Stadtviertel niederreißen und kleine Geschäfte und Garküchen plattmachen. Im Gefolge Xis rückte er 2017 ins Politbüro auf. Nun übernimmt er das Parteisekretariat, eine wichtige Schaltstelle der KP. Ungewöhnlich: Cai färbt seine Haare nicht schwarz.
Ding Xuexiang 丁薛祥 (60): Anders als die meisten anderen Spitzenkader bringt Ding nur wenig eigenständige Erfahrung als Provinz-Gouverneur oder Parteichef mit. Er gilt aber als einer der engsten Vertrauten von Xi Jinping überhaupt, was für einen Sitz in der Machtzentrale wesentlich zu sein scheint. Bereits 2007 hatte Ding in Shanghai für Xi gearbeitet und war seitdem einer seiner engsten Mitarbeiter. Zuletzt war er Xis Stabschef und zugleich mächtiger organisatorischer Leiter des Zentralkomitees. Er gilt eigentlich als Technokrat. Doch aufgrund seiner Loyalität zu Xi gilt auch er letztlich als Hardliner.
Li Xi 李希 (66): Wer Parteichef in der wirtschaftlich wichtigen Provinz Guangdong ist, galt früher zumeist als liberal und wirtschaftsfreundlich. Nicht jedoch Li Xi. Seine Karriere als Top-Kader begann er einst als Parteisekretär der vormals revolutionären Mao-Basis Yan'an. 2015 wurde er Parteisekretär der Provinz Liaoning. Dort ging er bei Xis Anti-Korruptions-Kampagne besonders rabiat und gründlich gegen vermeintlich korrupte Parteikader und Beamte vor. Nun hat Xi ihn zur Belohnung zum Leiter der gefürchteten Zentralkommission für Disziplinarkontrolle ernannt, als Nachfolger für den weiter im Ranking aufgestiegenen Zhao Leji (siehe oben).
Gemeinsam werden diese sieben Männer „unablässig an der Erfüllung unserer Pflichten arbeiten, um uns des großen Vertrauens unserer Partei und unseres Volkes würdig zu erweisen“, sagte Xi in einer kurzen Ansprache vor einer knallroten Wand mit KP-Flaggen.
Xi ignoriert die Altersgrenzen
Um seine Wunschpersonalien durchzudrücken, legte der 69-jährige Xi die informelle Ruhestandsgrenze von 68 Jahren überaus flexibel aus. Für ihn selbst gilt sie ohnehin nicht mehr. So schieden mit Li Keqiang und Wang Yang zwei 67-jährige Politiker vorzeitig aus: Beide zählen nicht zur Xi-Fraktion. Wang Yang hatte bis kurz vor dem Parteitag sogar als ein möglicher Ministerpräsidenten-Kandidat gegolten. Mit Li Xi und Cai Qi rückten zwei 66-Jährige neu in das Gremium auf. Es ist eindeutig, dass hier nicht das Alter, sondern die Xi-Nähe eine Rolle spielten. Alle Neuen im Ständigen Ausschuss sind zudem jenseits der 60. Das heißt vor allem: Ein Nachfolger für Xi ist auch weiterhin nicht in Sicht, allenfalls der 60-jährige Ding Xuexiang käme dafür nach den bisherigen Standards vom Alter her infrage.
Eine Machtetage tiefer ließ Xi den 69-jährigen Außenminister Wang Yi ins Politbüro aufsteigen. Wang dürfte nun trotz seines Alters der neue Außenpolitik-Zar werden, in der Nachfolge von Yang Jiechi, der aus dem ZK ausgeschieden ist. Wer im März 2023 neuer Außenminister wird, ist noch unklar. Interessant dabei: Der neue Botschafter in den USA, Qin Gang, wurde ins ZK aufgenommen und käme als Kandidat daher infrage.
Vizepremier Hu Chunhua, bis kurz vor dem Parteitag als wichtigster Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten gehandelt, wurde dagegen nicht nur nicht befördert – er fiel sogar aus dem Politbüro heraus, in dem er bislang saß. Nur im Zentralkomitee, einem deutlich größeren Gremium, ist Hu weiterhin. Der 59-Jährige gehört zu den Protegès von Ex-Präsident Hu Jintao und ist unter anderem bei Unternehmen als pragmatischer Macher beliebt.
Was geschah mit Hu Jintao?
Verstörend wirkte in diesem Zusammenhang der Vorfall um den 79-jährigen Hu Jintao auf der Abschlusssitzung des Parteitags am Samstag. Kurz nach Beginn führten zwei Männer – ein Ordner und ein hoher Parteifunktionär – den direkt neben Xi sitzenden Hu aus dem Saal. Dabei erweckte Hu den Eindruck, gegen seinen Willen hinausgeführt zu werden. Der gebrechlich wirkende Ex-Präsident beugte sich noch einmal Richtung Xi und Premier Li Keqiang. Xi nickte kurz. Li sagte ein paar Worte zu Hu. Andere Politbüromitglieder sowie die Militärs in der Reihe dahinter schauen der Szene überrascht oder besorgt zu.
Hu habe sich nicht wohlgefühlt, berichtete später die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua. Es gehe ihm aber wieder besser. Hu habe verwirrt gewirkt und versucht, eines von Xis Kongressdokumenten festzuhalten, während seine eigenen Dokumente von einem Parteikollegen an den Ordner übergeben wurden, beobachtete die South China Morning Post.
Experten betonten, bisher könne man über den Fall nur spekulieren. Ist Hu krank? Ist er womöglich dement? Oder ist die Erklärung gesundheitlicher Probleme von Chinas Staatsmedien nur vorgeschoben? Dann wäre die Aktion ein Warnsignal an alle Gegner Xis?
Kein großer Wurf bei der Ideologie
Ein großer Knall bei der Parteiverfassung blieb derweil aus. Weder wurde Xi in irgendeiner Form als "Vorsitzender" bezeichnet, noch wurden seine bisherigen Theorien zu "Xi-Jinping-Gedanken" verkürzt – entsprechend den "Mao Zedong-Gedanken". Sich ideologisch auf eine Stufe mit Mao zu stellen, ist Xi also offenbar nicht gelungen.
Allerdings nahmen die Delegierten am Samstag wie erwartet mehrere theoretische Konzepte Xis mit in die KP-Verfassung auf. Das wichtigste sind die „Zwei Begründungen („Two Establishes“/两个确立), die im Wesentlichen Xi als unbestrittenen „Kern“ der KPCh-Führung sowie die Ideen Xi Jinpings als Grundlage für die Zukunft festschreiben.
Die Parteiposten für die nächsten fünf Jahre stehen nun fest. Im kommenden Frühjahr folgt die Neubesetzung aller Staatsämter. Dann wird sich Xi aller Voraussicht nach auch die dritte Amtszeit als Staatspräsident sichern. Es sieht nicht danach aus, als stehe seinen Ambitionen noch irgendjemand im Weg.