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Kolumne Das europäische Wahlparadox

Aus dem Ergebnis der Europawahl kann kein „Spitzenkandidat“ Ansprüche ableiten. Von Christian Schütte
Christian Schütte
Christian Schütte schreibt an dieser Stelle über Ökonomie und Politik
© Trevor Good

Martin Schulz, der sozialdemokratische „Spitzenkandidat“ bei der Europawahl, darf sich als der Al Gore von Brüssel fühlen: Er hat den Gegner überflügelt und die Wahl trotzdem verloren.

Al Gore hatte bei der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 bekanntermaßen mehr Stimmen erhalten als sein Konkurrent George W. Bush. Er unterlag aber trotzdem, weil das amerikanische Wahlsystem faktisch die Stimmen aus den Bundesstaaten unterschiedlich gewichtet.

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist das ähnlich: Um ein Mandat zu gewinnen, sind in einem kleinen Land weniger Stimmen nötig als in einem großen. Malta etwa entsendet ungefähr einen Europaparlamentarier je 65.000 Einwohner, Deutschland einen je 850.000.

Mehr Stimmen für die Sozialdemokraten

Der Ökonom Daniel Gros hat nun vorgerechnet, dass dieses Prinzip der „degressiven Stimmengewichtung“ bei der jüngsten Wahl ganz gravierende Folgen hatte: Die Mehrheitsverhältnisse wurden dadurch gedreht.

Die christdemokratische Parteienfamilie der Europäische Volkspartei (EVP) mit ihrem „Spitzenkandidaten“ Jean-Claude Juncker verfügt zwar künftig im Europaparlament über 221 der 751 Sitze (29,4 Prozent). Sie liegt damit klar vor der sozialdemokratischen Allianz, die nur 191 Sitze hat (25,4 Prozent). Juncker will auch mit Hinweis auf diesen Wahlerfolg der nächste Kommissionspräsident werden.

Zählt man aber nicht die Mandate, sondern die Wähler, dann lagen die Sozialdemokraten vorn. Sie erhielten in der EU insgesamt 40 Millionen Stimmen, die Volkspartei-Familie nur 39,9 Millionen. Umgerechnet in Stimmanteile entspricht das 24,4 Prozent für die Roten und 23,8 Prozent für die Schwarzen. And the winner is: Schulz.

Wo ist der Wählerauftrag?

Die Konservativen profitieren davon, dass sie in den kleinen Ländern besonders erfolgreich waren. Juncker lag in seiner Heimat Luxemburg mit 38 zu 11 Prozent vorn, was allerdings nur etwas mehr als 50.000 Stimmen Vorsprung bedeutet. In Italien triumphierten die Sozialdemokraten mit 41 zu 22 Prozent, bei einem Stimmenvorsprung von fünf Millionen – das Hundertfache des Luxemburger Wahlsiegers. Gros rechnet vor, dass die italienischen Sozialdemokraten rund 14mal so viele Stimmen für ein Mandat brauchten wie die Volkspartei in Luxemburg.

Ist das jetzt ein Skandal? Es heißt zumindest, dass der offizielle Sieger Juncker, der nach Ansicht aufgebrachter Kommentatoren einen ach so zwingenden Wählerauftrag hat, nach der Zahl der Wählerstimmen der klare Verlierer wäre.

Das nennt man dann wohl Wahlen paradox.

Über die ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen – und die dadurch eingeschränkte Legitimation des Europaparlaments - ist vor der Wahl in Deutschland immer wieder debattiert worden. Es ist eine ironische Pointe, dass der bisherige Parlamentspräsident Schulz nun just an diesem Punkt gescheitert ist. Zumal er auch noch damit geworben hatte, dass jede Stimme für ihn eine Stimme für einen Deutschen an der Spitze der EU-Kommission sei.

Ohne Tories keine Mehrheit für die EVP

Auf der anderen Seite zeigt sich hier aber auch einfach, dass es kein wirklich gesamteuropäisches Parteiensystem gibt. Zumindest keines, das auch Großbritannien einschließt. Denn das Paradox tritt in dieser Schärfe ja nur deshalb auf, weil die Briten eine Sonderrolle spielen.

Die britischen Konservativen halten sich im Europaparlament abseits und gehören nicht zur Fraktion der Volkspartei. Das führte auch jetzt wieder zu einer wichtigen Asymmetrie zwischen Rot und Schwarz: Die vier Millionen Stimmen für die Labour Party sind voll den europäischen Sozialdemokraten zuzurechnen – aber die immerhin 3,8 Millionen Stimmen für die Tories zählen nicht auf dem Konto der Volkspartei-Familie.

Das ist dann auch der eigentliche Grund dafür, dass Juncker nach den Wählerstimmen in Europa nur auf Platz zwei liegt: Er und sein Parteienblock standen im Vereinigten Königreich schlicht nicht zur Wahl.

So gesehen ist es aber auch nur logisch, dass die Briten sich jetzt besonders heftig dagegen sträuben, Juncker zum Kommissionspräsidenten zu küren. Die Mehrheit, auf die sich dieser „Spitzenkandidat“ beruft, existiert aus ihrer Sicht eben gar nicht.

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