Detlef Gürtler ist seit einem Praktikum bei Capital (1988) Wirtschaftsjournalist und seit September 2008 Chefredaktor der Zukunfts-Zeitschrift GDI Impuls des Schweizer Gottlieb-Duttweiler-Instituts. Zu seinen Veröffentlichungen zählen die erfolgreichen Wirtschaftssachbücher „Die Dagoberts“, „Die Tagesschau erklärt die Wirtschaft“ und „Entschuldigung! Ich bin deutsch“. Er twittert hier.
Das Präsidium des Deutschen Leichtathletik-Verbandes ist einer der eher unwahrscheinlicheren Orte, um einen Blick auf die Zukunft der Menschheit zu erhaschen. Und doch ist es gerade passiert. Die Entscheidung, den mit Beinprothese springenden Markus Rehm nicht für den Weitsprung-Wettbewerb bei den Europameisterschaften in Zürich zu nominieren, hat ein Phänomen ins Rampenlicht gestellt, an dem wir uns in den kommenden Jahrzehnten abarbeiten müssen: Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge.
Früher wurden technisch modifizierte beziehungsweise aufgerüstete Menschen mit gehörigem Schaudern „Cyborgs“ genannt und in Action-Serien wie dem „Sechs-Millionen-Dollar-Mann“ (1974-78) dargestellt. Inzwischen – sind sie da: Ganz ohne Science-Fiction, und fast unmerklich, hat sich die Technisierung des Menschen immer weiter gesteigert. Der Einsatz der Techniken, mit denen sich der eigene Körper abändern lässt, wird dabei, mit deutlich milderem Schaudern, akzeptiert. Denn der unmittelbare Nutzen für den einzelnen Betroffenen wird als groß eingestuft und ist konkret sichtbar, die Folgen möglicher Schäden für die Gemeinschaft sind eher abstrakt und gelten als gering.
Als Faustregel lässt sich aufstellen: Verfügbare Techniken, die einen konkreten individuellen Nutzen versprechen, werden auch genutzt werden; egal wie die Rechtslage jeweils aussieht, da Patienten jederzeit in andere Länder ausweichen können.
Der Mensch wird zum Rohstoff
Doch der Trend zur Selbstbearbeitung wird sich weit über die bislang vorherrschenden medizinischen Motive hinaus fortsetzen. Der Mensch wird dabei zum Rohstoff, den er nicht nur bearbeitet und gestaltet, sondern aus dem er auch neue Versionen seiner selbst schafft. Dabei zeichnen sich bereits beim heutigen Stand der Technik fünf Entwicklungswege ab –Klonen, DNA-Manipulation, gezüchtete oder gedruckte Organe sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.
Selbstbearbeitung durch Geräte: Markus Rehm und vor allem natürlich Oscar Pistorius haben gezeigt, dass Geräte einen körperlichen Mangel ausgleichen können. Aber natürlich kann solche Hardware auch übermenschliche Leistungen ermöglichen – seien es große Geräte wie Exoskelette oder kleine, wie zum Beispiel eine Kontaktlinse, die dem Fußballer oder Tennisspieler jeweils die wahrscheinlichste Flugbahn eines in der Luft befindlichen Balles anzeigt.
Selbstbearbeitung durch Chemie: Leistungssteigernde Substanzen werden bereits seit Jahrzehnten verwendet, von Anabolika bei Kraftsportlern bis zum Kokain der Kreativen. Doch insbesondere das „Hirndoping“ oder freundlicher gesagt: Neuro-Enhancement dürfte in den kommenden Jahrzehnten drastisch zunehmen.
Selbstbearbeitung durch Operation: Bei Miss-Wahlen sind schönheitsoperierte Teilnehmerinnen noch verboten. „Gemachte“ Brüste, Lippen oder Nasen sollen nicht das Schönheitsideal bestimmen. Allerdings ist bei vielen dieser Wettbewerbe die Kontrolle etwa so lax wie bei der Tour de France zu Lance Armstrongs Zeiten die Doping-Kontrollen – und auch in der Gesellschaft wächst die Akzeptanz für eine operative Veränderung der körperlichen Merkmale.
Selbstbearbeitung durch Implantate: Angesichts der großen Bereitschaft, den eigenen Körper durch Tattoos und Piercings zu belasten, dürften auch technische Implantaten vielen willkommen sein. Hier ist in den kommenden Jahren eine Vielzahl von Innovationen zu erwarten. Ob ein Privacy-Schlüssel am Handgelenk, ein Infarkt-Frühwarngerät in der Blutbahn oder ein Kleinkraftwerk im Bauchnabel, das aus dem Körperfett Energie für den Handy-Akku erzeugt.
Selbstbearbeitung im Digitalen: Die Autocorrect-Funktion bei Texten kennen wir (inklusive ihrer Schwächen). Auch bei Fotos sowie bei Video- und Audio-Dateien sind solche Techniken vorhanden. Technisch spricht also nichts dagegen, dass sich unser digitales Abbild so bearbeitet, wie wir uns selbst gerne sehen – oder hören würden.
Biomensch als Gegentrend
Sich solchen Methoden zur Selbstbearbeitung zu entziehen, wird umso schwieriger, je mehr andere von deren Möglichkeiten Gebrauch machen. Schließlich wird der bearbeitete Mensch schöner, gesünder und wettbewerbsfähiger sein als der nicht bearbeitete – und das bis in ein höheres Alter. Es ist sogar denkbar, dass einige dieser Verfahren der Selbstoptimierung zum staatlich garantierten Grundbedarf werden. Angesichts der neuen Möglichkeiten, Gesundheit, Leistungsfähigkeit und somit auch Lebensqualität zu kaufen, würden sich sonst schließlich sich die Klassengegensätze vergrößern. In vielen Ländern der Welt kann man den sozialen Status eines Menschen an seinen Zähnen ablesen – wollen wir, dass bei uns eines Tages aus abstehenden Ohren oder X-Beinen auf die Zugehörigkeit zur Unterschicht geschlossen werden kann?
Allerdings erzeugt ein starker Trend in der Regel einen Gegentrend, eine genau entgegengesetzte, aber schwächere Strömung – sei es aus Protest, sei es, um sich vom Mainstream abzuheben. So könnten diejenigen, die nicht auf wissenschaftliche, medizinische, technologische Verbesserung setzen, dafür einen ideellen Überbau entwerfen: den Biomenschen. Gegen den technischen Fortschritt, gegen eine Leistungsgesellschaft, die zur ständigen Optimierung zwingt, und für ein ganzheitliches, entschleunigtes, einfaches Leben – auch wenn das dann mit weniger Annehmlichkeiten verbunden sein sollte.
Eines jedoch hätten diese Biomenschen den optimierten Menschen voraus: Sie wären die einzigen, die dann noch halbwegs ernsthaft bei sportlichen Wettkämpfen antreten könnten. Denn was bleibt vom olympischen Motto „schneller – höher – weiter“ noch übrig, wenn die höhere Leistung durch eine schlichte Implantat-Innovation erreicht werden kann?