Nach fast zwei Jahren Coronakrise wächst die Zahl der Unternehmen, die dringenden Sanierungsbedarf haben. Wie eine Umfrage von Capital unter Restrukturierungsexperten ergab, ist die Nachfrage nach externen Sanierungsberatern zuletzt deutlich gestiegen. Nach Einschätzung der Experten dürften die Probleme mittelbar dazu führen, dass die Zahl der Insolvenzen, die aktuell auf einem historischen Tiefstand liegt, zulegen wird. Bislang haben die umfangreichen staatlichen Corona-Hilfsprogramme verhindert, dass die Folgen der Pandemie bei den Unternehmen auf breiter Front durchschlagen.
„Seit Anfang November sind die Anfragen von Unternehmen sprunghaft angestiegen. So ein dann doch überraschendes extremes Hochlaufen habe ich bislang noch nicht erlebt“, sagte Martin Hammer, Chef der Hamburger Restrukturierungsberatung Enomyc. Die Mischung aus explodierenden Material- und Energiekosten, Chipmangel und Unsicherheit durch die vierte Corona-Welle sei für viele Unternehmen ein „gefährlicher Cocktail“.
Zahlreiche Branchen betroffen
Akut betroffen seien Handel, Logistik und Maschinenbau, aber zunehmend auch Immobilienprojekte, etwa Büroimmobilien und Shoppingcenter in mittelgroßen Städten, sagte Hammer. „Ab dem ersten Quartal 2022 dürften wir mehr Insolvenzen sehen.“ Nach bisherigen Erfahrungen müssten mindestens 20 Prozent der Firmen, die eine Restrukturierung benötigen, am Ende Insolvenz anmelden, weil die Unternehmen viel zu spät in einen Restrukturierungsprozess gehen.
Auch andere Brancheninsider bestätigen, dass sich Unternehmen derzeit verstärkt Sanierer ins Haus holen – nicht zuletzt auf Druck von Banken und anderen Finanzierern. „Die Sanierungsberater sind derzeit stark gefragt und wohl weitenteils ausgelastet“, sagte der Düsseldorfer Restrukturierungs- und Insolvenzexperte Martin Lambrecht. „Im Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Automotive-Branche brennt es bei vielen Unternehmen lichterloh.“ Bei vielen Autozulieferern führe der Chipmangel zu großen Auftragseinbrüchen. Bei manchen gebe es aber auch Probleme in der Produktion, weil reihenweise Arbeitskräfte an den Bändern wegen Corona-Erkrankungen ausfallen.
Bei der Nachfrage von Unternehmen nach externen Sanierungsexperten handelt es sich um einen Frühindikator. Ob aus den Restrukturierungsfällen akute Insolvenzkandidaten werden, hängt nach Einschätzung der Experten davon ab, wie lange der Staat seine umfangreichen Corona-Hilfsprogramme aufrecht erhält. „Es gibt eine hohe Anzahl an nicht nachhaltig finanzierten, nicht rentablen Unternehmen, die durch die Hilfen über Wasser gehalten werden“, sagte Burkhard Jung, Vorsitzender des Fachverbands Sanierungs- und Insolvenzberatung im Bundesverband Deutscher Unternehmensberater (BDU). Derzeit würden die Hilfen viele Probleme aber noch verschleiern. Bei insolvenznahen Beratern und Insolvenzverwaltern sei die Nachfrage derzeit daher gering.
Laut einer Anfang Oktober veröffentlichten Befragung des BDU lief das Geschäft der auf Sanierungsberatung spezialisierten Consultingfirmen im dritten Quartal noch gebremst. Allerdings gaben 36 Prozent an, sie erwarteten künftig bessere Geschäftsaussichten für Sanierer. Nach Angaben von Jung, Geschäftsführer der Berliner Spezialberatung Restrukturierungspartner, hat die Saniererbranche bereits darauf reagiert, dass die Hilfsprogramme bei manchen Krisenunternehmen verhindern, dass sie in eine unmittelbare Insolvenzgefahr geraten und externe Unterstützung benötigen: „Viele Kollegen, die bisher auf akute Liquiditätskrisen spezialisiert waren, bieten nun auch Beratung in früheren Krisenstadien an“, sagte Jung. Erfahrungsgemäß holen sich viele Unternehmen erst dann Sanierungsberater ins Haus, wenn es bereits richtig brennt.
Plateau statt Pleitewelle
Für die ersten neun Monate 2021 meldete das Statistische Bundesamt in der vergangenen Woche 10.682 Firmenpleiten – noch einmal 14,5 Prozent weniger als das ohnehin schon ungewöhnlich niedrige Niveau im Vorjahreszeitraum. Eine deutliche Verschärfung der Lage erwarten die Experten jedoch, wenn Unternehmen die Staatshilfen wie etwa Überbrückungskredite der KfW zurückzahlen müssen und strukturelle Probleme, die derzeit von der Coronakrise überdeckt werden, verstärkt zum Vorschein treten. „Wenn Liquiditätshilfen aus dem Markt genommen werden, werden einige Unternehmen in große Schwierigkeiten geraten, bis hin zur Insolvenzgefahr“, sagte Tammo Andersch, Chef der Sanierungsberatung FTI-Andersch aus Frankfurt. „Im zweiten Quartal 2022 werden wir eine Häufung der Themen sehen, die sich angestaut haben.“
Die vielfach vorhergesagte Insolvenzwelle, die anrollt und dann wieder abebbt, erwarten Tammersch und viele seiner Kollegen allerdings nicht – sondern eher ein Plateau höherer Insolvenzzahlen: „Es wird ein langer Prozess von Unternehmen, die sich verändern müssen. Das wird uns drei, vier, fünf Jahre beschäftigen“, sagte Andersch.

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