Guo Jing genießt gerade ihre ersten Tage in Freiheit. Die 29-jährige Sozialarbeiterin hat die vergangenen zwei Monate in Wuhan unter strenger Ausgangssperre verbracht. Von Normalität aber könne noch keine Rede sein. „Überall braucht man nun Genehmigungen“, sagt sie. „Und viele Geschäfte haben noch immer geschlossen.“ Die Auslastung der öffentlichen Verkehrsmittel liegt bei gerade einmal 20 Prozent des Vorkrisen-Niveaus. Wirtschaftlich sei der Schaden immens. „Viele haben ihre Arbeit verloren. Unternehmen sind bankrott gegangen. Mir fällt auf, dass viele die großen Städte verlassen, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können.“
Guo spricht ein Thema an, das die Führung in China noch einige Zeit beschäftigen dürfte. Chinas Abschwung dürfte vor allem die unteren Bevölkerungsschichten und den Binnenkonsum treffen. Um 40 Prozent ist die Wirtschaftsleistung Hubeis, dem Epizentrum der Pandemie, im ersten Quartal gefallen. Landesweit fiel das chinesische Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent. Einen Rückgang hatte das Land zuletzt während der Kulturrevolution - vor über 40 Jahren - erlebt.
Zwar gibt es erste Anzeichen der Erholung: Vor allem die großen Unternehmen laufen wieder, die Pharma- und Elektronik-Branche konnten sich bereits im März wieder erholen. Der Automobil-Absatz dagegen liegt noch immer über 20 Prozent geringer als im Vorjahr. Schätzungen gehen davon aus, dass über 200 Millionen Arbeitnehmer derzeit noch nicht voll beschäftigt sind - die meisten von ihnen Fabrikarbeiter. Offiziell liegt Chinas Arbeitslosenquote im März bei 3,6 Prozent - doch darin enthalten sind nur Stadtbewohner, die sich zudem die Mühe gemacht haben, sich registrieren zu lassen. Wanderarbeiter, die keinen Wohnsitz in der Stadt haben, tauchen darin nicht auf.
Jahrzehntelang basierte Chinas Wirtschaftsaufschwung auf einer mobilen Masse von Wanderarbeitern. Zwischen 200 und 300 Millionen Menschen in China haben ihren Hauptwohnsitz irgendwo auf dem Land in einer der Inlandprovinzen. Weil die Einkommen dort niedrig sind, waren selbst schlecht bezahlte Jobs in den Fabriken an der Ostküste attraktiv. Zudem stiegen die Gehälter in den vergangenen Jahren stetig. Die Großeltern auf dem Land übernahmen die Kinderbetreuung. Die meisten Eltern sahen ihre Kinder einmal im Jahr - zum Frühlingsfest, das dieses Jahr mit dem Ausbruch der Corona-Krise zusammenfiel.
China braucht keine weiteren Investitionen in Infrastruktur
2008, als die Welt zum letzten Mal eine globale Rezession erlebte, rettete Peking mit einem gigantischen Konjunkturpaket die globale Nachfrage. Für umgerechnet 500 Milliarden Euro wurden im ganzen Land Brücken, Hochgeschwindigkeitszugstrecken und Flughäfen aus dem Boden gestampft. Dass ein Teil des Geldes in den Händen korrupter Beamte versickerte und ein anderer den Bau ganzer Geisterstädte in der Inneren Mongolei finanzierte, war nicht weiter schlimm - der Ausbau der Infrastruktur war vorrangiges Ziel.
Heute aber ist das anders: China braucht nicht noch mehr Flughäfen und Bahnhöfe. Gleichzeitig fehlt die Nachfrage aus dem Ausland. Der Export macht ohnehin nur noch 18 Prozent der Wirtschaftsleistung aus und der Anteil dürfte durch die Krise noch weiter zurückgehen. 2008 waren das noch über 30 Prozent. Seit einigen Jahren ist klar: Wenn das Land weiter nachhaltig wachsen soll, muss das durch den Binnenkonsum geschehen. Genau der aber kommt jetzt ins Wanken.
Rund acht Millionen Arbeiter wurden allein im März entlassen. „Zum ersten Mal hat Peking Probleme, sein Beschäftigungsziel zu erreichen, welches bei elf Millionen Jobs 2020 liegt“, heißt es in einem Bericht des Mercator Instituts für China-Studien in Berlin, Merics. Betroffen sind davon in erster Linie Wanderarbeiter. Das Problem aber könnte sich auf Facharbeiter ausweiten, wenn noch mehr kleinere und mittlere Unternehmen Insolvenz anmelden müssen. Auch die Mittelschicht trifft die Krise: 8,74 Millionen Universitätsabsolventen haben dieses Jahr düstere Job-Aussichten. Das verfügbare Einkommen ist nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten um 3,9 Prozent gesunken.
Für viele Chinesen ist das eine völlig neue Erfahrung: Ganze Generationen kannten bisher nur Fortschritt. Während man in Mittel- und Westeuropa mit dem latenten Gefühl „Früher war alles besser“ aufwuchs, waren das chinesische Leben spätestens seit den Neunzigern von einem „Früher war alles schlechter“ geprägt.
Immobilienmarkt zeigt sich noch widerstandsfähig
Immerhin - noch steht eine Säule des chinesischen Erfolgsmodells: Der Immobilienmarkt. Dort verzeichnen die Preise bisher einen leichten Rückgang, aber dieser Trend besteht schon seit 2019 und wurde bisher durch die Corona-Krise nicht beeinträchtigt. Das aber könnte sich noch ändern: „Die Nachfrage könnte sich deutlich abschwächen, wenn sich die Haushalte aufgrund von Unsicherheit mit Langzeit-Investitionen zurückhalten, während andere Eigentümer zu Verkäufen gezwungen werden,“ heißt es im Merics-Report.
Für die Führung in Peking wäre das eine gefährliche Entwicklung. Hunderte Millionen von Chinesen haben in den vergangenen Jahren ihre Ersparnisse in Wohnimmobilien investiert. Kommt diese Säule ins Wanken, gefährdet das die für die chinesische Führung so wichtige soziale Stabilität.
Spannend wird nun in den kommenden Wochen, wie die chinesische Führung reagiert. Der kommunistische Apparat ist gut darin, große Staatsunternehmen zu unterstützen. Wie aber ein Stimulus aussehen kann, der auf den privaten Konsum abzielt ist noch unklar. China hat zwar ein rudimentäres Sozialversicherungssystem, das umfasst aber nicht die 300 Millionen Wanderarbeiter.
Am Dienstag kündigte der Premierminister Li Keqiang finanzielle Unterstützung für Wanderarbeiter an, auch das ein Novum in China. „Bisher aber sind es vor allem Gutscheine für Lebensmittel, die sie hier austeilen“, erzählt die Wuhanerin Guo Jing.
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