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Kommentar Bruttoinlandswohlbefinden

Das BIP hat ausgedient. Wichtiger als die Wirtschaftsleistung ist die Messung des Wohlergehens. Von Gus O'Donnell

Bei einer Diskussion über die globale Finanzkrise im Jahr 2008 an der London School of Economics verblüffte Königin Elisabeth II. einen Raum voller Finanz-Schwergewichte mit der Frage „Warum hat es niemand kommen sehen?“. Diese Frage hat Ökonomen seither umgetrieben, da sich langsam die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass sie in dem vermeintlich „goldenen Zeitalter“ vor Ausbruch der Krise nicht nur blind waren für die potenziellen Folgen des Scheiterns – sondern auch für die wahren Kosten des „Erfolgs“.

Diese Zeit war in den Augen vieler Menschen gekennzeichnet durch Gier, die mit raschem Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig steigenden Ungleichheiten bei Einkommen und Wohlergehen einherging.

Die Verantwortlichen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten haben das offenbar verstanden, rufen sie doch nach einem neuen umfassenden Politikziel als Ersatz für die Wirtschaftsleistung. Und ein solches Ziel lässt sich etablieren. Tatsächlich schlussfolgerte eine Gruppe von Ökonomen (einschließlich mir) in einem vom Legatum Institute in Auftrag gegebenen Bericht, dass „Wohlergehen“ – oder Lebenszufriedenheit - trotz seiner offenkundigen Subjektivität gemessen, international verglichen und genutzt werden kann, um eine Politik zu entwickeln und ihren Erfolg zu beurteilen. Die Regierungen müssen sich verpflichten den Schwerpunkt auf das Wohlergehen in die Praxis zu übertragen.

Stabilität ist wichtiger als Wachstum

Einige wesentliche Erkenntnisse sollten diesen Prozess leiten. Zum einen sind Regierungen gut beraten, wenn sie ihre Konzentration auf Stabilität richten, auch wenn dabei etwas Wirtschaftsleistung geopfert werden muss. Wie Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart gezeigt haben, sind Finanzkrisen teuer, weil die Erholung lange dauert.

Aber die Erforschung des Wohlergehens fördert noch klarere Einsichten zutage: Auch wenn wir nach einem Crash wieder auf die Beine kommen können, wird der Preis hoch sein. Auf- und Abschwünge belasten das Wohlbefinden, dass weit mehr durch ein Schrumpfen des BIP getroffen wird als es durch ein gleich großes BIP-Wachstum gefördert wird.

Zweitens wächst das Wohlergehen – anders als das BIP – stärker durch Einkommenssteigerungen in ärmeren Bevölkerungsschichten als durch Zuwächse bei den Wohlhabenden. Daher verfügen die reicheren europäischen Volkswirtschaften über große automatische Stabilisatoren in ihren öffentlichen Finanzen. Das Fehlen von Umverteilungsmechanismen unter den Euro-Länderm hat die Spannungen während der jüngsten Krise erhöht.

Psychische Gesundheit wird unterschätzt

Drittens würde die Einführung eines Wohlergehensmaßstabs für die Politikberatung den schnellsten - und radikalsten – Effekt auf nationaler Ebene haben. Als Maßstab für politischen Erfolg eignet sich das BIP nur wenig für Länder mit einem großen öffentlichen Sektor. Die jetzt verwendeten reinen Produktionswerte, wie die Zahl der medizinischen Behandlungen oder die der gelöschten Brände, gehen an einem wichtigen Punkt vorbei: Es ist zwar gut, dass man mit solchen Diensten auf den Bedarf reagieren kann, besser wäre es aber, sie müssten weniger in Anspruch genommen werden. Und effizientere Gesundheitsdienste müssten weniger Geld für Krankenhäuser und Ärzte ausgeben und könnten stattdessen stärker zur Förderung eines gesunden Lebensstils eingesetzt werdern.

Gesellschaften wären mehr mit einer Politik gedient, die sich auf wichtige Faktoren für die Lebenszufriedenheit konzentriert: Beziehungen, Gemeinschaft, Sicherheit sowie körperliche und seelische Gesundheit. Obwohl zum Beispiel die psychische Gesundheit ein entscheidender Faktor für die Einstellung der Menschen zu ihrem Leben ist, spielt sie in den meisten Ländern eine untergeordnete Rolle. In den USA gab es im vergangenen Jahr mehr Selbstmorde als Verkehrstote und in Deutschland und Großbritannien war die Zahl der Selbstmorde dreimal so hoch wie die der Verkehrstoten. In Großbritannien wird die große Mehrheit der Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wird, nicht behandelt – mit einem hohen Preis nicht nur für das Wohlbefinden sondern auch für Leistungen bei Erwerbsunfähigkeit und verloren gegangener Erwerbskraft.

Natürlich sind die Prioritäten von Land zu Land unterschiedlich. So werden zum Beispiel in alternden Gesellschaften Einsamkeit und langfristige Gesundheit immer wichtiger.

Es geht um Umverteilung

Die vierte wichtige Erkenntnis ist, dass die Indikatoren des Wohlergehens interagieren. Freiwilligendienste verbessern nicht nur das Leben derjenigen, die von den Dienstleistungen profitieren, sondern auch die Lebenszufriedenheit der Freiwilligen. Unter der Annahme, dass Arbeitslosigkeit sowohl dem Wohlbefinden als auch dem Nationaleinkommen schadet, erreichen effektive Wiedereingliederungsprogramme zwei Ziele, genau wie Programme ausgerichtet auf die Lebenskompetenzen der Bürger Erziehung und Bildung verbessern helfen.

Das hat positive Auswirkungen für die Finanzierung von Programmen zur Verbesserung des Wohlergehens. Insgesamt geht es aber nicht darum Budgets aufzublähen, sondern um die Umverteilung von Ressourcen zur Verbesserung der Zufriedenheit und des Wohlstands der Bürger.

Schließlich sind zuverlässige Daten notwendig, um die Bemühungen in die richtige Wege zu lenken und den Prozess zu bewerten. Glücklicherweise erkennen die meisten entwickelten Länder – und eine wachsende Zahl von Entwicklungsländern – die Bedeutung von Daten über das Wohlergehen. Hinzu kommt, dass die OECD Parameter für die Messung festlegt und damit internationale Vergleiche von Wohlbefinden möglich werden.

Die Welt ist bereit für eine neue, umfassende Messung des nationalen und globalen Fortschritts und Wohlstands, eine, die uns sagt, ob es den Menschen wirklich besser geht - und wie man dafür sorgen kann.

Copyright: Project Syndicate, 2014.
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