Bayer-Chef Bill Anderson brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Der US-Amerikaner Anderson hat Mitte vergangenen Jahres den Vorstandsvorsitz bei dem Leverkusener Traditionskonzern übernommen, und schon der kurze Einblick reichte ihm: alles zu bürokratisch, hierarchisch, erstarrt. 17.000 Führungskräfte stehen auf zwölf Hierarchiestufen zwischen dem Vorstandschef und den Kunden. Ein Betriebsmodell von vorgestern, bei dem Entscheidungen getroffen werden wie vor 50 Jahren. Ganze 1362 Seiten umfasst der interne Regel- und Vorschriftenkatalog, berichtet Anderson.
Quälend sind diese Strukturen. Die müssen weg, damit alle wieder produktiver arbeiten können. Das hatte Anderson schon zu seinem Amtsantritt sehr klar gemacht. Nun konkretisieren sich seine Pläne: Bis Ende kommenden Jahres soll ein großer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen – auch in Deutschland. Das ist kein Alleingang von Anderson, sondern muss durch alle Konzerninstanzen und Entscheidungsgremien getragen werden.
Das ging vergleichsweise schnell. Der Vorstand und die Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat einigten sich nach Angaben von Bayer in einer gemeinsamen Erklärung auf Grundsätze für die Zukunft des Unternehmens. Heike Prinz, Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektorin von Bayer, erklärte am Mittwochabend: „Um die Leistungsfähigkeit unserer Organisation und unseren Handlungsspielraum schnell und nachhaltig zu verbessern, sind jetzt einschneidende Maßnahmen notwendig. Wir wollen Bayer zügig wieder in die Erfolgsspur bringen.“ Der Personalabbau werde zulasten vieler Führungskräfte gehen, betonte zugleich Barbara Gansewendt, Vorsitzende des Bayer-Konzernsprecherausschusses.
Für den Leverkusener Traditionskonzern ist das eine Zäsur. Von den gut 100.000 Mitarbeitern sind allein 22.200 in Deutschland beschäftigt. Betriebsbedingte Kündigungen gab es in den vergangenen 27 Jahren nicht. Der nun angestoßene Stellenabbau solle so sozialverträglich wie möglich gestaltet werden, betonte die Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats, Heike Hausfeld. Die allgemeine Beschäftigungssicherung, die die Mitarbeiter in Deutschland vor betriebsbedingten Kündigungen schützt, wurde um ein weiteres Jahr bis Ende 2026 verlängert.
Anderson ist als Aufräumer geholt worden. Der Amerikaner muss den seit langem drängenden Investoren schnell beweisen, dass er der Richtige ist, um das lädierte Unternehmen wieder auf Wachstum zu trimmen – trotz anhaltender Rechtsrisiken beim Unkrautvernichter Glyphosat und Rückschlägen in der Medikamentenentwicklung. Die Bayer-Aktie läuft dem Dax hinterher, der Unternehmenswert ist zusammengeschmolzen, die Schulden lasten mit 38 Mrd. Euro auf der Bilanz. Alle drei Geschäftssparten entwickeln sich nur mäßig. Da muss mehr gehen. Aber wie?
Das Bayer-Experiment
Anderson hat bei Bayer das wohl spannendste Managementexperiment gestartet, das sich derzeit in einem deutschen Großkonzern abspielt: Ganz normale Mitarbeiter und Teams sollen deutlich mehr Verantwortung erhalten, sie sollen künftig selbst entscheiden, wie sie arbeiten, was sie entwickeln und was sie als Nächstes anpacken – Hauptsache, es dient den Kunden und dem Unternehmen. Denn in jedem stecke doch ein Unternehmer, ist das Management-Mantra von Anderson. „Wir unternehmen riesige Anstrengungen, die besten aller Leute vom Markt zu kriegen, und setzen ihnen dann fünf Chefs vor die Nase, weil wir uns nicht trauen, ihnen die Entscheidungen selbst zu überlassen.“ Führungskräften bleibt künftig die Rolle des Coaches. Davon werden dann aber eben nicht mehr 17.000 gebraucht, sondern ein paar Tausend weniger.
Andersons Management-Bibel
Basis für den Kulturbruch ist Gary Hamel, ein Schwergewicht unter den Managementtheoretikern und -beratern. Der Ökonom lehrte lange an renommierten Universitäten, berät aber auch Unternehmen zu Innovation und Prozessoptimierung. Sein Buch „Humanocracy“ ist Andersons Bibel, mit der er schon in seinem früheren Job bei Roche Führung neu definierte. „Wer als Unternehmen überleben will, muss sein Management neu organisieren“, schreibt Hamel.
Mehr Macht für Mitarbeiter ist das Prinzip. Anderson und sein Stab haben für die Umsetzung bei Bayer eine Formel geprägt: DSO. Dynamic Shared Ownership heißt ihr Ansatz. Frei übersetzt so viel wie: geteilte Verantwortung.
Mehr Macht kann jedoch nicht wie ein Staffelstab übergeben werden. Schon gar nicht an 100.000 Menschen, von denen viele schon beide Hände voll mit Arbeit haben. Deshalb soll der neue Ansatz auch nicht als Gewaltakt übergestülpt werden. „Wir wollen die Leute dafür begeistern“, sagt Alexander Buschermöhle, „dass sie mitziehen, weil sie selbst davon inspiriert sind.“ Buschermöhle ist Andersons Mann für das Mammutprojekt. Der 42-Jährige, ein jugendlicher Typ, leitet gemeinsam mit Michael Lurie, einem Ex-McKinsey-Manager, das sogenannte Catalyst-Team, dessen Aufgabe es ist, „das neue Modell zum Leben zu erwecken“.
Dass Buschermöhle der Katalysator geworden ist, hat er zwei kurzen Antworten zu verdanken. „Was glaubst du, wie viel Prozent ihres Potenzials schöpfen Mitarbeiter in Unternehmen wie Bayer aus?“, wollte Anderson von ihm wissen. „40 Prozent“, mutmaßte er. Was er davon halte, hakte Anderson nach. „Ziemlich schrecklich“, sagte Buschermöhle.
Er weiß, wovon er spricht. Denn der Betriebswirt hat durchlitten, was nun weg soll. „Ich habe zentralisiert, ich habe dezentralisiert und wieder von vorn. Am Ende waren wir wieder am Punkt, wo wir losgegangen sind“, erzählt er. 22 Jahre ist er im Konzern. Es könne nicht sein, dass das Berufsleben eine Aneinanderreihung organisatorischer Änderungen sei, die zu nichts führten. „Es muss was anderes geben.“
Jetzt schulen sie Führungskräfte und Beschäftigte, bilden interne Coaches aus, die die neue Botschaft in die Organisation tragen sollen. Anfang des Jahres haben sie eine Videoreihe gestartet, die das Grundgerüst der künftigen Zusammenarbeit erklärt. Erste Teams arbeiten seit September nach den neuen Prinzipien, nach und nach wird die gesamte Wertschöpfungskette – Vertrieb, Produktion, Forschung und Entwicklung – integriert.
Bis Ende 2024 soll die gesamte Belegschaft in der neuen Organisation angekommen sein. Die Teams entscheiden selbst, was sie probieren, anpassen, verwerfen, nach 90 Tagen wird ein erstes Zwischenfazit gezogen. Schneller wollen sie so werden, ihren Mitarbeiter zutrauen, die richtigen Dinge zu tun, die den Kunden helfen. „Es geht nicht darum, so viele Aktivitäten wie möglich loszutreten“, sagt Buschermöhle, „sondern darum, sich darauf zu konzentrieren, was wirklich Ergebnisse bringt.“
In diesem Artikel haben wir nachträglich präzisiert, dass Konzernchef Bill Anderson sich in seiner Aussage zur qualvollen Arbeit auf die komplexen Strukturen, Hierarchien und Bürokratien im Konzern bezieht. Das ist dem Unternehmen gerade im Kontext zu dem angekündigten Stellenabbau wichtig.
Bayer gehört zu den Unternehmen, die derzeit versuchen, neuen Schwung in ihre Organisationen reinbringen. Warum das nötig ist und wie andere damit umgehen, lesen Sie in der Titel-Geschichte „Mehr Kraft“ der neuen Capital-Ausgabe (Nummer 2/2024), die ab Samstag im Handel und als E-Paper erscheint.