Wer wissen möchte, wie es um die Regierungskoalition nach dieser Woche bestellt ist, muss sich nicht durch die gesamten 16 Seiten kämpfen, die die Unterhändler von SPD, Grünen und Liberalen in dieser Woche zu Papier gebracht haben. Am Ende der zweiten Seite schon, ganz unten, gewährt ein kurzer Absatz einen guten Einblick in den Gemütszustand der gerade mal 15 Monate alten Fortschrittskoalition.
Unter Ziffer I.3 heißt es dort zur künftigen Kontrolle von CO2-Minderungszielen: „Wenn die Projektionsdaten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zeigen, dass mit den aggregierten Jahresemissionen bis zum Jahr 2030 das Gesamtminderungsziel nicht erreicht wird, wird die Bundesregierung auf Basis der Vorschläge der maßgeblich für die Minderungsmengen der Sektoren verantwortlichen Bundesministerien Maßnahmen beschließen, die sicherstellen, dass das Minderungsziel bis 2030 dennoch erreicht wird.“
Bei der Lektüre der Koalitionsbeschlüsse musste ich immer wieder an das großartige Kammerspiel und die gleichnamige Verfilmung von Roman Polanski denken: Der Gott des Gemetzels. Darin treffen sich zwei Paare in New York zur Aussprache, nachdem sich ihre beiden elfjährigen Söhne in einem Park geprügelt haben und der eine dem anderen zwei Zähne ausgeschlagen hat. Was freundlich-zugewandt beginnt, endet in einem furiosen Fiasko aus Beleidigungen, Wutausbrüchen und kleinkarierten Demütigungen.
Die Nerven sind aufgezehrt
Wir wissen nicht, was sich die 17 Unterhändler in jenen 30 Stunden, die sie über drei Tage verteilt miteinander verbracht haben, alles an den Kopf geworfen haben. Aber das Treffen kann nicht von großer Zuversicht und einer Aufbruchsstimmung getragen gewesen sein, wenn am Ende solche Sätze wie oben dabei herauskommen (auch wenn es natürlich von großer Ernst- und Gewissenhaftigkeit zeugen soll, wenn man nochmal auf 16 Seiten, in sechs Kapiteln, acht Unterkapiteln und etwa 60 Spiegelstrichen festhält, was man in den nächsten Monaten so alles vorhat).
Aber um mal etwas Positives vorwegzuschicken: Wahrscheinlich gab es keine Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik, die in den ersten zwölf Monaten ihrer Regierungszeit so viele schwere Krisen bewältigen musste. Der Überfall Russlands auf die Ukraine, der drohende Energieengpass, die Umkehr in der Verteidigungspolitik, der sprunghafte Anstieg der Inflation – all diese Probleme hat diese Koalition bis heute zwar nicht gelöst, aber zumindest eben: bewältigt und eingedämmt. Und das verdient auch schon Respekt.
Es überrascht also nicht, dass nach gut 15 Monaten die Nerven aller Beteiligten etwas aufgezehrt sind. Dass die Ampel aber gleich 30 Stunden brauchte, um sich mit solchen Sätzen wie oben zurück in die Regierungsfähigkeit zu therapieren, das ist schon auch ein Novum. Es waren gleichsam zweite Koalitionsverhandlungen, die immerhin nochmal den ersten Koalitionsvertrag bestätigten. Für die nächsten zweieinhalb Jahre, die diese Koalition noch durchhalten soll, ist das freilich nicht sehr ermutigend.
Kleinkariert, detailversessen, unerbittlich
Die Ergebnisse lesen sich über weite Strecken wie eine Selbstvergewisserung: Was gilt denn noch, was ist unbestritten, was schon lange beschlossen und wird auch nicht mehr infrage gestellt? Man liest aus den Zeilen, wie mutmaßlich auch schon im Vorfeld über Tage hinweg um jeden Spiegelstrich und jeden Halbsatz gerungen wurde, kleinkariert, detailversessen, unerbittlich. Wenn diese Koalition jemals selbst den Glauben hatte, sie könne dieses Land voranbringen und verändern („Die Fortschrittskoalition“), dann hat sie diesen Spirit offensichtlich verloren.
Vieles ist und bleibt sogar ungelöst, und zwar Grundsätzliches ebenso wie Lächerliches, zum Beispiel: „Die Koalitionspartner haben festgelegt, dass ein neuer Infrastrukturkonsens bei den Bundesverkehrswegen in Deutschland angestrebt wird.“ Ja, was denn sonst? Solche Sätze erinnern schon sehr an diese Konzern-Meetings, die jeder kennt, in denen alle noch mal wortreich schildern, was seit dem letzten Meeting bereits geprüft wurde – damit man jetzt bald „ins Doing“ kommen könne.
Relativ normal nach solchen Runden ist ja das Ritual, das eigene Lager als den eigentlichen Gewinner der Veranstaltung hinzustellen. In diesem Fall aber schaffen es die Koalitionäre, selbst in ihrer nach wie vor angespannten Lage den Konflikt immer weiter auszureizen: so wie FDP-Chef Christian Lindner, der gestern Abend im ZDF süffisant feststellte, man hätte sich den ganzen Zirkus sparen können, denn er hätte auch dem ersten Kompromissvorschlag bereits am Sonntagabend zugestimmt – aber jetzt, nach den 30 Stunden, seien die Ergebnisse eben noch viel besser für seine FDP.
Die Grünen laufen immer gegen dieselbe Wand
Damit legt er den Finger in die offene Wunde dieser Koalition: Die Grünen, angetreten als selbsternannter Erneuerungsmotor der Koalition, erweisen sich als das schwache Glied im Bündnis. Nicht, dass sie sich mit ihren Positionen nicht durchsetzen können – wahrscheinlich haben sie auch so alle Hände voll zu tun, wenn sie jetzt umsetzen, was in den Beschlüssen an Klimamaßnahmen vereinbart ist. Es zeigt sich aber, dass die Partei hadert und zerrissen ist zwischen ihrer Wählerschaft (die im Zweifelsfall mehr erwartet hat), den eigenen Ansprüchen und den Möglichkeiten einer Regierungskoalition aus drei Parteien mit sehr unterschiedlichen Interessen.
Im Prinzip hat FDP-Chef Christian Lindner ähnliche Probleme – aber wenigstens tragen er und seine Minister diese Selbstzweifel nicht die ganze Zeit vor sich her. Bei den Verantwortlichen der Grünen hingegen ist das Unglück über die eigene Unzulänglichkeit mit Händen zu greifen.
Dahinter steckt auch ein strukturelles Problem, das die Öko-Partei inzwischen eigentlich zu Genüge kennen sollte – von dem sie aber jedes Mal aufs Neue überrascht zu sein scheint: Abstrakt sind immer alle für den Schutz des Klimas. Aber wenn es konkret wird, wenn die Politik angeblich in die Heizungskeller hinabsteigt, in die Auspuffe kriecht und die Kochtöpfe auf dem Herd inspiziert, dann beginnt bei vielen ein alter Abwehrreflex. Da können grüne Minister wie Robert Habeck noch so oft erklären, das Installationsverbot für neue Öl- und Gasheizungen ab 2024 sei schon lange beschlossen, auch die FDP habe dem doch zugestimmt – es hilft nichts mehr. Andere werden aus Fehlern klug, die Grünen hingegen laufen immer wieder gegen dieselbe Wand.
Das größte Problem hat die Ampelkoalition auch nach ihrer Dauertherapiesitzung in dieser Woche noch vor sich: Wie und wer wird das alles bezahlen – den Ausbau bei der Bahn oder die Zuschüsse für Wärmepumpen? Allein hierfür sind zig Milliarden notwendig, die zusätzlichen Milliarden für die Bundeswehr kommen noch mal hinzu. Auf rund 70 Mrd. Euro summierten sich zuletzt die Ausgabenwünsche aller Ministerien, eine Entscheidung darüber wurde zunächst vertagt. Eigentlich will und muss Finanzminister Christian Lindner jedoch sparen und nicht mehr Geld ausgeben, wenn er sein eigenes Ziel eines Bundeshaushalts im Rahmen der Schuldenbremse wieder einhalten will.
Die 30 Stunden in dieser Woche waren wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack auf das, was die Koalition und uns alle mit dieser Koalition in den kommenden Wochen noch erwartet, wenn es ums Geld gehen wird.