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Voice of America Amerikanischer Sozialismus

Bernie Sanders: Der linke Senator bewirbt sich um die Präsidentschaftskandidatur bei den Demokraten
Bernie Sanders: Der linke Senator bewirbt sich um die Präsidentschaftskandidatur bei den Demokraten
© dpa
Immer mehr junge Leute in den USA zweifeln am kapitalistischen System. Der Mentalitätswandel überrascht – und könnte am Ende Trump nützen

Im Krimskramsladen im Brooklyner Stadtteil Boerum Hill ist Bernie Sanders ausverkauft. Schon bevor der 77-jährige linke Senator seine Präsidentschaftskandidatur erklärte, sei das Plastikfigürchen mit der gepunkteten Krawatte und dem kämpferischen Gesichtsausdruck sehr gefragt gewesen, erzählt die Verkäuferin.

Kein Wunder: Im New Yorker Viertel jenseits des East River wohnen vor allem Millennials, die sich Manhattan nicht leisten können. Ihnen gefällt Sanders’ Wahlprogramm, das er selbst als „demokratischen Sozialismus“ beschreibt. Kernforderungen: Achtung der Menschenrechte, kostenloses Studium, Recht auf Gesundheitsversorgung, Verdoppelung des Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde – alles finanziert durch höhere Steuern für Reiche. Klingt für Europäer nicht gerade nach Verstaatlichung der Produktionsmittel.

Cover der neuen Capital
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© Capital

Für die Amerikaner aber steht hinter solchen Forderungen eine ungewohnte Frage: Funktioniert unser kapitalistisches Wirtschaftsmodell noch? Immer mehr Menschen zweifeln daran. In einer Umfrage des Nachrichtenportals „Axios“ erklärten 58 Prozent, das System begünstige auf unfaire Weise die Wohlhabenden. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es sogar 76 Prozent. In einer anderen Befragung befürworteten drei Viertel der registrierten Wähler Steuererhöhungen für Reiche.

Dieses Unbehagen habe im Kernland des Kapitalismus vor ein paar Jahren entweder noch nicht existiert oder keine Ausdrucksmöglichkeit gehabt, glaubt Michael Cembalest, Chef der Strategieabteilung bei J.P. Morgan Asset Management. „Das ist ein bemerkenswerter Moment in der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte. Dieses Ding ist ganz plötzlich innerhalb von ein paar Monaten explodiert.“

„Kapitalistisch bis in die Knochen“

Für die Demokraten muss „dieses Ding“ nicht unbedingt gut ausgehen. Ein Schwenk nach links könnte sie bei der Präsidentschaftswahl 2020 entscheidende Stimmen in der Mitte kosten. Auf Trumps Haussender Fox News ziehen Kommentatoren schon Venezuela-Vergleiche. Auch der Präsident hat das Hetzpotenzial erkannt: Er werde dafür sorgen, dass „Amerika nie ein sozialistisches Land sein wird“, donnerte er in seiner Rede zur Lage der Nation.

Die Ironie: Gerade Trumps Wähler auf dem Land können sich oft keine Krankenversicherung leisten. Obamacare, die umkämpfte Reform des Vorgängers, gewinnt zunehmend an Popularität. Nicht zufällig hat Trump Einsparungen bei Medicare und Medicaid für Tabu erklärt. Nur das S-Wort darf nicht fallen.

Auch Elizabeth Warren, Senatorin aus Massachusetts und demokratische Anwärterin aufs Weiße Haus, beteuerte in Abgrenzung zu Sanders, sie sei „kapitalistisch bis in die Knochen“. Warren-Figürchen gibt es im Brooklyner Geschenkshop noch reichlich.

Unsere Kollegin Ines Zöttl lebt und arbeitet in Washington. Hier schreibt sie jeden Monat über Politik und Wirtschaft in den USA.

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