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Gastkommentar Achtung, Erfolgsfalle!

Wie kann die Nationalmannschaft nach dem WM-Titel 2014 ganz oben bleiben? Was das DFB-Team von erfolgreichen Konzernen wie Amazon gelernt hat
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Sascha L. Schmidt (l.) ist Seniorprofessor und Leiter des Center for Sports and Management an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Dennis-Julian Gottschlich ist Mitarbeiter am Center for Sports and Management an der WHU

„Mach ihn! Mach ihn! Er macht iiiiihn!“ Zwei Jahre ist es her, dass ARD-Kommentator Tom Bartels in Rio de Janeiro diese mittlerweile legendären Worte in sein Mikrofon brüllte. Mario Götze machte das goldene Tor im WM-Finale. Die deutsche Nationalmannschaft war 24 Jahre nach dem Triumph von Rom wieder auf dem Zenit.

Zugleich bedeutete der Triumph im Maracana das erfolgreiche Ende eines Transformationsprozesses, der bereits mit der Amtsübernahme von Jürgen Klinsmann als Trainer eingeleitet und von seinem Nachfolger Joachim Löw zu Ende geführt wurde (siehe Harvard Business School Case „Die Mannschaft“). Der DFB hat in Zusammenarbeit mit der Deutschen Fußball Liga seit der Jahrtausendwende ein international führendes Fördersystem geschaffen. In den mittlerweile mehr als 400 im gesamten Land verteilten DFB- Förderzentren werden die besten Nachwuchskicker Deutschlands gescoutet, systematisch gefördert und zu Fußballern mit Nationalmannschaftsqualität entwickelt.

Doch gerade vor der am 10. Juni beginnenden Europameisterschaft in Frankreich stellt sich die Frage: Was folgt auf den WM-Titel von Rio? Wie kann die Nationalmannschaft nach dem größtmöglichen Triumph erfolgreich bleiben, ohne dem süßen Gift des Erfolgs zu erliegen?

In der Unternehmenspraxis wie im Fußball gilt: Wer starr an erfolgreichen Strategien festhält und es verpasst, diese frühzeitig zu überprüfen und zu erneuern, gerät in die Erfolgsfalle. Gerade im digitalen Zeitalter bedeutet Stehenbleiben den Tod. In der Tat zeigen aktuelle Analysen der Boston Consulting Group, dass Unternehmen heute schneller sterben als je zuvor. Dabei geht die größte Gefahr für das Scheitern am Markt nicht von konkurrierenden Firmen aus. Vielmehr ist das Zögern vor einer strategischen Selbsterneuerung der Grund, dass beinahe jeder dritte Mittelständler und jedes sechste Großunternehmen die nächsten fünf Jahre nicht überleben wird. Unternehmen gehen im Durchschnitt doppelt so schnell durch ihren Lebenszyklus wie vor 30 Jahren. Dieser Trend betrifft alle Branchen.

Erfolg durch "Beidhändigkeit"

Paradoxerweise ist der Grund für das Scheitern häufig dem eigenen Erfolg geschuldet. Insbesondere Großunternehmen, die im Kerngeschäft über Jahre erfolgreich sind, tendieren offensichtlich dazu, die richtige Balance zwischen „Exploration“ (Säen) und „Exploitation“ (Ernten) zu verlieren. Sie lassen sich dazu verleiten, zu viel zu ernten und zu wenig zu säen. Weil sie vom Erfolg geblendet sind oder Angst davor haben, existierende Einkommensströme zu kannibalisieren, vertrauen sie in die Langlebigkeit ihrer Geschäftsmodelle und investieren zu wenig Zeit und Geld in eine strategische Erneuerung.

Der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist genau das nach dem WM-Titel 1990 widerfahren. Damals dachten die Verantwortlichen, dass man über Jahre hinaus unschlagbar bleiben würde. Sie verpassten es, notwendige Reformen rechtzeitig in Angriff zu nehmen. Dabei täuschten der Gewinn des WM-Titels von 1990 und später auch des EM-Titels von 1996 darüber hinweg, dass eigentlich notwendige Strukturmaßnahmen dringend geboten waren.

Um ähnliche Fehler wie Anfang der 90er-Jahre zu vermeiden, hilft ein Blick auf Hochleistungsorganisationen wie Amazon, Apple oder Google. Diese Unternehmen schaffen es, Jahr für Jahr Rekordergebnisse einzufahren und den Firmenwert kontinuierlich zu steigern. Sie entkommen offenbar der Erfolgsfalle und liefern relevanten Anschauungsunterricht – auch für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft.

Auch und gerade in Zeiten des Erfolgs ist es entscheidend, eine grundlegende Veränderungsbereitschaft zu bewahren. Der kritische Punkt ist, die richtige Balance zwischen Säen und Ernten zu finden, zwischen Innovation und operativer Exzellenz sowie zwischen Stabilität und Flexibilität. Eine „Beidhändigkeit“ der Organisation muss ausgebildet werden. Wissenschaftler sprechen von „Ambidextrie“. Vorhandene Ressourcen müssen ausgenutzt und parallel neue entwickelt werden, um flexibel auf rapide Veränderungen der Umwelt reagieren zu können. Die erforderliche Beidhändigkeit bezieht sich auf die Organisation als Ganzes: auf die Strategien, Strukturen und Prozesse, aber auch die Unternehmenskultur.

Bierhoffs "Grand-Project 2024"

Oliver Bierhoff und Jogi Löw wollen mit der neuen DFB-Akademie Innovationen fördern
Oliver Bierhoff und Jogi Löw wollen mit der neuen DFB-Akademie Innovationen fördern
© Werner Amann

Beidhändigkeit beinhaltet, neben dem Säen auch gleichzeitig zu ernten. Ernten bedeutet, die operative Leistung in allen Bereichen schrittweise zu verbessern, operative Exzellenz in der Umsetzung und im laufenden Geschäft zu erzielen. Dazu müssen kurzfristige Ziele, langfristige Strategien und vielfältige Interessen in Einklang gebracht werden. Ein gutes Beispiel für erfolgreiche Beidhändigkeit ist Amazon: Dem Unternehmen gelingt es, mit neuen Geschäften wie dem Cloud-Service oder dem Lebensmittel-Lieferdienst Amazon Fresh sowohl strategische Anpassungsfähigkeit als auch operative Exzellenz in den Kernprozessen (Transport, Logistik, Kundenmanagement/CRM) sicherzustellen.

Um die Wettbewerbsfähigkeit der Fußball-Nationalmannschaft in der Weltspitze nachhaltig sicherzustellen, hat Teammanager Oliver Bierhoff mit dem sogenannten „Grand-Project 2024“ bereits vor dem WM-Sieg in Rio einen neuen Zehn-Jahres-Plan angestoßen. Ende 2014 formulierte Bierhoff dazu seine Vision: „Wir wollen die Kompetenz im internationalen Fußball sein. Wenn jemand etwas über Fußball wissen möchte, dann wollen wir die erste Anlaufstelle sein.“

Im Zentrum des „Grand-Project 2024“ steht die strategische Erneuerung des gesamten Verbands, die vor allem durch den Bau der DFB-Akademie in Frankfurt vorangetrieben wird. Diese Neuaufstellung resultiert einerseits aus der Erkenntnis, die Fehler aus der Zeit nach 1990 nicht zu wiederholen. Andererseits ist sie Ausdruck einer intensiven Wettbewerbsbetrachtung und der Orientierung an internationalen Benchmarks. So wurde beispielsweise der Aufbau nationaler Leistungszentren in Frankreich (Clairefontaine), den Niederlanden (KNVB Academy), Italien (Coverciano) und England (St. Patrick) intensiv verfolgt.

Dabei geht es bei der DFB-Akademie nicht um eine Kopie anderer Nationen. Sie soll mehr als ein zentrales Leistungszentrum für die Nationalmannschaften werden; sie soll als „Denkfabrik“ dienen. Das gesamte Wissen des deutschen Fußballs soll zentral gebündelt und mit internationalen Best Practices verbunden werden. Das Ziel der Akademie bleibt die Weiterentwicklung der Nationalmannschaft. Sie soll aber nicht als einzelner Satellit im größten Sportverband der Welt umherschwirren. Verwaltung, Ehrenamt und Profibereich im DFB sollen ein großes Ganzes ergeben.

Unterstützung von McKinsey

Bierhoff tauscht sich als Gesamtprojektleiter regelmäßig mit Experten aus anderen Sportarten, mit Topmanagern, Beratern und Wissenschaftlern aus, um den DFB langfristig weiterbringen können. So wurde etwa auch die Unternehmensberatung McKinsey in den Planungsprozess der DFB-Akademie einbezogen, um externes Know-how und Außenperspektiven beim Design des Jahrhundertprojekts zu nutzen.

Im Herbst 2015 überprüfte McKinsey mit den DFB-Verantwortlichen zunächst den Status quo. Inzwischen begleiten und moderieren die Berater die Entwicklung des Fachkonzepts der Akademie, welches in 16 inhaltliche Module aufgeteilt ist. Basis ist ein gemeinsames Werteversprechen, insbesondere ein tiefes Qualitätsverständnis. So heißt es wörtlich: „Wir machen aus Talent Qualität. Und Qualität gewinnt Titel.“ Der Anspruch ist es, die DFB-Akademie mit kompetentem Personal, belastbarer Infrastruktur und modernster Technologie auszustatten. Sie soll an wissenschaftliche Einrichtungen gekoppelt werden, damit das System Nationalmannschaft ständig weiterentwickelt werden kann.

Hochleistungsorganisationen, die parallel ernten und säen können, zeichnen sich durch besondere Strukturen aus. Sie sind robust, zuverlässig und stabil, aber zugleich auch schnell, flink und flexibel. Wie aktuelle Untersuchungen von McKinsey oder Kienbaum zeigen, bilden Stabilität und Flexibilität bei erfolgreichen Unternehmen keinen Wiederspruch. Entscheidend ist eine Kombination aus etablierten Aufbau- und Ablaufstrukturen mit flexiblen, multidisziplinären Teams, die vielfältige Initiativen vorantreiben, um unmittelbar auf Marktsignale reagieren können. Dieses Zusammenspiel ist vergleichbar mit einem Smartphone: Während die Hardware das Rückgrat bildet, welches eine längere Periode überdauert, gleichen Apps flexiblen Einheiten, die im „Plug&play“-Verfahren beliebig schnell hinzugefügt, modifiziert und ausgetauscht werden.

Um bei der Nationalmannschaft die nötige Stabilität beizubehalten, haben die Verantwortlichen nach der WM in Brasilien versucht, bewährte organisatorische Strukturen und Abläufe beizubehalten. Sie bilden das Rückgrat, die Hardware, die weitgehend unverändert bleibt. So laufen neben dem Platz organisatorisch alle Strippen weiterhin im „Büro Nationalmannschaft“ unter der Leitung von Georg Behlau zusammen. Diese Einheit wurde 2004 von Jürgen Klinsmann ins Leben gerufen und begleitet seitdem praktisch jeden Schritt der Nationalmannschaft. Schon vor der Weltmeisterschaft in Brasilien begannen dort die Vorbereitungen auf die EM in Frankreich. Heute laufen bereits erste Planungsschritte für die WM 2018, etwa Vor-Ort-Besuche im Gastgeberland Russland.

Software statt Spickzettel

Mannschaftsfeier: Bundespräsident und Kanzlerin nach dem WM-Finale in der Kabine
Mannschaftsfeier: Bundespräsident und Kanzlerin nach dem WM-Finale in der Kabine
© Getty Images

Zum Rückgrat der Nationalmannschaft gehört auch der konsequente Einsatz modernster Technologien und technischer Hilfsmittel. So hat das Team Nationalmannschaft in Partnerschaft mit dem IT-Konzern SAP zur WM 2014 die Software „Match Insights“ entwickelt, die für die Wettbewerbsanalyse und Spielvorbereitung international neue Maßstäbe gesetzt hat. Während Jens Lehmann bei der WM 2006 im Elfmeterschießen gegen Argentinien noch den Spickzettel aus dem Stutzen zauberte, konnte sich Manuel Neuer 2014 in der Halbzeitpause via Smartphone über den gegnerischen Elfmeterschützen informieren, der nach der Pause eingewechselt werden sollte. Die Zusammenarbeit mit SAP wurde nach dem WM-Sieg von Rio sowohl im sportlichen als auch im organisatorischen und administrativen Bereich intensiviert.

Für die notwendige Flexibilität – im Smartphone-Bild also: die Apps – soll vor allem die neue DFB-Akademie sorgen. Schon heute können die 16 Modul-Teams, die derzeit für die inhaltliche Konzeption der DFB-Akademie verantwortlich sind, wichtige neue Impulse für das System Nationalmannschaft liefern. Die Teams setzen sich aus Mitarbeitern quer durch die heutige DFB-Organisation zusammen und können auch in Zukunft als selbst-organisierte Teams flexibel für strategische Themen eingesetzt werden. Jedes Team ist sozusagen eine App. So könnte sich beispielsweise das Modulteam „Spezialtrainerausbildung“ auch in Zukunft mit den neuesten Trends in anderen Sportarten und Ländern beschäftigen und entsprechend die eigene Aus- und Weiterbildung der Spezialtrainer anpassen und verbessern.

Mit dem „Grand-Project 2024“ stellt sich der DFB strategisch und strukturell für die kommenden Jahre neu auf. Damit werden auch die Voraussetzungen für den langfristigen Erfolg der Nationalmannschaft geschaffen, um die Erfolgsfalle dauerhaft zu vermeiden. Inwiefern die Maßnahmen zum Aufbau der DFB-Akademie dann konkret greifen, muss sich allerdings noch zeigen. Getreu dem Leitsatz „Struktur folgt Strategie“ nimmt der DFB die strukturelle Neuaufstellung erst nach der EM in Frankreich in Angriff, wenn auch das Fachkonzept für die DFB-Akademie verabschiedet worden ist.

Sicherlich wird eine große Herausforderung darin bestehen, die „zwei Geschwindigkeiten“ zwischen Akademie und Verbandsadministration zu managen. Die Hochleistungsabteilung Team Nationalmannschaft könnte jedoch als eine Art Keimzelle innerhalb des neu aufgestellten Gebildes wirken und so durch positive Abstrahleffekte auch andere Bereiche des DFB mitziehen. Am Ende könnte daraus sogar eine neue, innovative Verbandskultur entstehen. Nach der jüngsten Führungskrise und erheblichen Reputationsverlusten durch die Sommermärchen-Affäre käme das der neuen DFB-Führung sicherlich entgegen.

Fußball ist brutaler als Wirtschaft

Natürlich bestehen nach wie vor Risiken und Unwägbarkeiten. Durch die neue strategische Gangart sowie neuartige Organisationsstrukturen und -prozesse könnte in weiten Teilen des Verbands Verunsicherung entstehen, die sich in Trägheit oder sogar Verschlossenheit gegenüber Innovationen niederschlagen kann. Für den Erfolg des Jahrhundertprojekts wird es zudem wichtig sein, inwieweit das Potenzial der Deutschen Fußball Liga, die sich unter von Führung Christian Seifert in ein modernes Medienunternehmen verwandelt hat, sowie der Bundesligisten beim Aufbau der DFB-Akademie genutzt werden kann. Am Ende der Kette wird sich diese Zusammenarbeit wiederum auf die Arbeit der Nationalmannschaft auswirken.

Sollte das „Grand-Project 2024“ aufgehen, wird die Nationalmannschaft der Erfolgsfalle nach dem vierten WM-Titel entgehen. Trotzdem bleibt Fußball ein von vielen unberechenbaren Faktoren und Unwägbarkeiten abhängiger Sport. Siege und Titel sind nicht generalstabsmäßig planbar. In der Wirtschaftswelt können mehrere Unternehmen zeitgleich weltweit Spitze sein und sich feiern lassen. Fußball ist ungleich brutaler: Nur eine Mannschaft kann den EM-Titel gewinnen. So könnte eine unglückliche Final-, Halbfinal- oder sogar Viertelfinalniederlage in Frankreich in den Augen der Fans als Misserfolg erscheinen und für große Unruhe im Umfeld sorgen – ungeachtet des Weltmeistertitels.

Wenn es aber um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit geht, dann sind die Verantwortlichen der Nationalmannschaft auf dem richtigen Weg. Vielleicht reicht es bei auch bei den nächsten großen Turnieren wieder zu einem Finaleinzug, in dem der Kommentator dann neue geschichtsträchtige Worte finden muss. Gerne schon am 10. Juli in Paris.

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