Es ist immer putzig, wenn ein SPD-Minister ein Versäumnis, eine Lücke oder ein Loch in einem Etat „entdeckt“. Und sich überrascht und empört gibt, um dann Loch und Lücke auf die Vorgängerregierung zu schieben. In dieser hatte die SPD acht Jahre selbst mit gesessen und eifrig den Wohlstandskuchen verteilt, als würden Wachstum und Überschüsse nie enden. Das aber hat sich geändert, und wer dachte, es würde nur einen Corona-Knick geben, hat sich geirrt. Die Defizite werden höher, die Ausgaben steigen – und es wird auch wieder teurer, Schulden zu machen.
Aber das Problem geht tiefer als taktische Spielchen, die auch andere Parteien beherrschen. Man hat seit einiger Zeit das Gefühl, dass Deutschland zwischen Krieg und Corona den Überblick über seine Finanzen verloren hat – und damit auch ein Gefühl für Zahlen, was viel ist und was wenig. Und was geht und was nicht.
Diese Woche war es Karl Lauterbach, der ein Loch entdeckte. Der Bundesgesundheitsminister muss eine Finanzierungslücke in Höhe von 17 Mrd. Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schließen. Dafür will Lauterbach den durchschnittlichen Zusatzbeitrag, der derzeit bei 1,3 Prozent des Bruttoeinkommens liegt, um 0,3 Prozentpunkte anheben. Schuld ist natürlich Jens Spahn, der Vorgänger. „Die Bundesregierung hat die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen in einem sehr schwierigen Zustand vorgefunden“, sagte Lauterbach treuherzig. „Ich habe dieses Defizit im Wesentlichen von meinem Vorgänger geerbt.“ Ist klar.
Da der SPD-Minister keine Leistungen kürzen will, braucht er mehr Einnahmen. Der höhere Zusatzbeitrag bringt aber nur bis zu 5 Mrd. Euro. Der Rest wird mit Steuern, Rücklagen und Darlehen des Bundes gefüllt, der übliche Verschiebebahnhof. Das Problem wird natürlich nicht gelöst.
Wo ist der Plan für die Zeit nach 2022?
In den anderen Sozialversicherungen drohen ähnliche Lasten. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung, den die Große Koalition bis Ende des Jahres befristet von 2,6 auf 2,4 Prozent abgesenkt hatte, könnte steigen. Außerdem hat die Ampel-Koalition angekündigt, den Beitrag zur Pflegeversicherung „moderat“ anzuheben. Der Plan von Arbeitsminister Hubertus Heil, das Rentenniveau auf Dauer – geplant war bis 2025 – bei 48 Prozent festzuschreiben, dürfte die Rentenversicherung erheblich belasten. Auch hier müssen entweder die Beiträge rauf oder der Steuerzuschuss des Bundes steigen. Dieser liegt übrigens schon bei stolzen 116 Mrd. Euro pro Jahr, ein Drittel des Haushaltes.
In den Jahren bis 2019 konnte Deutschland Überschüsse anhäufen, nicht nur in den Haushalten, auch in den Sozialversicherungen. Der Bund baute sogar eine „Flüchtlingsrücklage“ in Höhe von 48 Mrd. Euro auf. All diese Polster werden seit einiger Zeit stillschweigend aufgelöst, was im Prinzip in Ordnung wäre. Rücklagen sind für schlechte Zeiten, und wir erleben schlechte Zeiten.
Was aber fehlt, ist ein Plan über 2022 hinaus, denn das Spiel, immer wieder die Beiträge anzuheben, Nachtragshaushalte zu verabschieden und hier und da ein paar Milliarden zusammenzukratzen, wird nicht aufgehen. Das gilt auch für die Ausgaben im Bundeshaushalt. Im Februar kursierte eine Zahl, dass sich die Wünsche aller Ampel-Minister bis 2026 auf fast 400 Mrd. Euro zusätzlich im Vergleich zur geltenden Finanzplanung belaufen. Politische Pläne gibt es nicht mehr im Kontext, nicht im Konzert, sie gibt es nur noch im luftleeren Raum. Keiner sagt mehr, was möglich ist, sondern nur, was wünschenswert ist – was im Prinzip alles ist, was „gerecht“ ist.
Anfang Juni hatte der Bundestag, reichlich verspätet, den Haushaltsentwurf für das laufende Jahr verabschiedet. 140 Mrd. Euro beträgt die Nettokreditaufnahme für 2022. Rechnet man die Krisenausgaben für Corona und die Kriegsfolgen zusammen, kommt man auf eine Summe von 500 Mrd. Euro. 2023 will Christian Linder die Kreditaufnahme wieder auf gut 17 Mrd. Euro senken. Eine in „Zahlen gegossene Hoffnung auf eine Zukunft ohne Virus und Krieg“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ treffend kommentierte. Und eine fiskalische Vollbremsung, die vermutlich so nicht eintreten wird. Vorher wird die Ampel eine weitere Notlage feststellen, angesichts des Schocks in unserer Energieversorgung, damit die Schuldenbremse erneut ausgesetzt werden kann. Aber wer hat angesichts der vielen Neben- und Schattenhaushalte sowie der Sondervermögen noch einen Überblick?
Konsumgeschenke vom Staat
Deutschland lebt seit 2020 in einer fiskalpolitischen Trance, in der die Zeit der Überschüsse zu Ende gegangen ist, gleichzeitig aber die historischen Defizite alles verzerren und verdecken. So haben wir verlernt, Prioritäten zu setzen. Ja, wir scheinen gar nicht mehr in der Lage und den Willen zu finden, etwas zu kürzen, Ausgaben zu senken oder zu sparen.
Und wenn man eine erste Bilanz ziehen darf: Wir haben das viele Steuergeld, dass in den Jahren bis 2019 wie Ahornsirup auf einen Pancake in die Kassen floss, nicht wirklich gut genutzt. Es wurde für den Konsum ausgegeben, für Geschenke an die Wählerinnen und Wähler. Mütterrente, Baukindergeld, Grundrente. Im Prinzip ist es nicht falsch, Wohlstandsgewinne breit zu verteilen. Schädlich ist nur, wenn all die Jahre zu wenig investiert wird.
In der Frage unserer Energieversorgung dürfte sich der Konflikt als erstes zuspitzen: Energiezuschuss, Tankrabatt und 9-Euro-Ticket haben zwei Fragen aufgeworfen: Welche Maßnahmen sind sinnvoll, wirken und entlasten jene, die es wirklich brauchen? Die zweite geht über den Nutzen aus: Wie lange kann und soll der Staat bei den höheren Strom- und Heizkosten aushelfen? Derzeit behandelt die Regierung diese Frage wie eine erweiterte Corona-Hilfe. Wenn aber die Energiekosten über Jahre und auf Dauer hoch bleiben, was dann? Die Regierung kann ja nicht auf Dauer die Gas- und Ölrechnungen für weite Teile der Bevölkerung übernehmen. Völlig allein lassen kann man Rentner, Alleinerziehende und Menschen mit niedrigen Einkommen mit den horrenden Nachzahlungen aber auch nicht.
Dieser Krieg macht uns alle ärmer, hat Finanzminister Christian Lindner gesagt. Er wird uns Wohlstand kosten, hat Wirtschaftsminister Robert Habeck vorausgesagt. Die Bestandsaufnahme ist ehrlich. Aber vorbereitet sind wir mitnichten.