Politiker sollen klar sprechen, sie sollen sagen was sie denken und tun was sie sagen. So ungefähr lautet die Aufgabenbeschreibung für alle, die Menschen überzeugen, Mehrheiten gewinnen, Probleme lösen und Länder und Gesellschaften führen wollen.
So gesehen ist Wolfgang Schäuble ein Ausnahmepolitiker. Denn der scheidende deutsche Finanzminister hat so ziemlich alles getan, aber sich nie und nimmer an die Gebote von Verständlichkeit, Transparenz und Prinzipientreue gehalten. Trotzdem wurde er in den acht Jahren als Finanzminister nicht nur einer der beliebtesten Spitzenpolitiker des Landes, sondern – gemessen an seiner eigenen politischen Agenda – ein ziemlich erfolgreicher noch dazu.
Man kann über sein Wirken und seine Positionen lange streiten: über seine geradezu störrische Weigerung, neue Schulden aufzunehmen; über seine harsche Haltung gegenüber Griechenland in der Euro-Schuldenkrise ; über sein zugleich nimmermüdes Werben für mehr Europa. Aber genau hier beginnt sein wahres politisches Verdienst: Er war immer alles zugleich, hart und flexibel, konservativ und liberal, charmant und kauzig.
Nur so konnte er einerseits zum knallharten Sparkommissar eines ganzen Kontinents aufsteigen, und zugleich immer wieder Kompromisse machen, damit Europa und die Eurozone nicht auseinanderfliegen. Wer auch immer ihm nachfolgen wird, sie oder er kann von Wolfgang Schäuble viel lernen.
#1 Härte
In zwei großen (und unendlich vielen kleinen) Streitfragen hat sich Schäuble als Finanzminister den Ruf erworben, seine Überzeugungen unnachgiebig durchzufechten. In Deutschland war dies die Vorgabe, keine neuen Schulden mehr zu machen; wenn irgendetwas heute noch der Markenkern von CDU/CSU ist, dann die „schwarze Null“, solide öffentliche Finanzen. In der Euro-Krise war es, zweiter Großkonflikt, der Umgang mit Griechenland. Bis zum Beinahe-Rauswurf trieb Schäuble die Auseinandersetzungen um Einsparungen in Athen und immer neue Hilfsmilliarden auf die Spitze.
Dabei trug Schäuble das immer gleiche Mantra vor: Wenn man sich Regeln gegeben hat, muss man diese auch einhalten. Bricht man sie hingegen, sind die Regeln nichts mehr wert und jeder macht, was er will – und oft genug in Europa zu Lasten Anderer. Bis zum Geht-nicht-mehr nervte er damit seine Verhandlungspartner. Wo andere längst nachgeben hätten, machte er immer weiter.
#2 Verlässlichkeit
Viele Kritiker sprechen Schäuble ein Grundverständnis für Ökonomie ab: Etwa, weil der Staat für ihn vor allem dazu da ist, Regeln zu setzen, sich ansonsten aber aus Märkten raushalten sollte. Oder weil er mehr an die Macht von Recht und Gesetz glaubt, als an die Macht und Gestaltungskraft des Geldes. Und tatsächlich sieht Schäuble die Aufgabe von Staat und Politik vornehmlich darin, Regeln zu setzen und diese zu befolgen. Interventionen sieht er dagegen skeptisch, weil sie zu oft nur Unsicherheiten schafften.
Man kann über dieses Konzept von Staat und Wirtschaft lange diskutieren. Doch dass weite Teile der Bevölkerung heute Deutschland als vergleichsweise robust wahrnehmen, und sich selbst in großer wirtschaftlicher Sicherheit wähnen (weshalb die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes historisch niedrig und die Bereitschaft zum Konsum historisch hoch sind), hat wahrscheinlich auch etwas mit Schäubles Finanzpolitik zu tun. Die meisten Menschen vertrauen einfach, dass sich das Land, seine Finanzen und die Unternehmen in guter Verfassung befinden.
Gerade in den ersten Jahren seiner Amtszeit, als die Finanzkrise Deutschland noch zusetzte, musste sich Schäuble für seine Zurückhaltung viel Kritik anhören. Doch heute sind viele alte Widersacher verstummt. Schäubles Härte und Regelfetisch haben zwar kurzfristig wenig geholfen, langfristig aber durchaus ihre wirtschaftliche Berechtigung gehabt.
#3 Flexibilität
Auf der anderen Seite gestattete Schäuble sich und Europa eine Biegsamkeit, die so gar nicht zu seinem Image passte. Als sich abzeichnete, dass sich das jährliche Loch im Bundeshaushalt dank höherer Einnahmen und sinkender Zinslasten quasi von alleine schließen würde, kassierte er schon beschlossene Einsparungen wieder. Und als der Bund bald darauf mehr Geld einnahm als er eigentlich ausgeben wollte, wurden eilig ein paar Wohltaten erfunden – statt zum Beispiel Schulden zu tilgen, was eher zu Schäubles öffentlichem Anspruch gepasst hätte.
Schäubles „schwarze Null“ war am Ende ein Etikettenschwindel. Statt Spardiktat verbarg sich dahinter ein Wunschkonzert. Trotzdem steht die „schwarze Null“ heute in aller Welt für finanzpolitische Stabilität.
Und während er Griechenland abkanzelte, ließ Schäuble im Rest Europas Gnade walten. Kein öffentliches Wort zu Frankreich, das in seiner Amtszeit nicht ein einziges Mal die EU-Defizitgrenze einhielt. Auch Zypern, Italien, Spanien, Portugal und Irland könnten sich immer sicher sein, dass Deutschland sie notfalls rauspauken würde.
Viele Wegbegleiter, Ökonomen und Kommentatoren bieten in diesen Tagen mehr oder weniger drei Großinterpretationen der Ära Schäuble: Entweder loben sie seine Regelfixiertheit, weil sie Vertrauen geschaffen habe; sie verurteilen sie als gefährliche Halsstarrigkeit, die Deutschland isoliert und Europa zurückgeworfen habe; oder sie halten ihn eigentlich für einen Scheinriesen, der wenig von dem gehalten, was er angeblich zuvor versprochen hat.
Für alle Versionen lassen sich Argumente und Belege finden. Aber sie lenken ab vom Wesentlichen: Nur in dieser Ambivalenz konnte Schäuble so arbeiten, wie er gearbeitet hat – nach außen hart, nach innen sehr weich; stets von Fall zu Fall entscheidend. Wahrscheinlich ist genau diese Flexibilität (die man sich auch erst mal leisten können muss) eines der wichtigsten Erfolgsgeheimnisse von Wolfgang Schäuble.
#4 Kooperation
Quasi doppelt geschützt, in seinem sperrigen Englisch und mehr als 6000 Kilometer entfernt von Berlin, hat Schäuble am Rande der IWF-Tagung an diesem Wochenende in Washington einen bemerkenswerten Satz gesagt. In Berlin könne er das so deutlich nie sagen, aber für ihn habe es in all den Jahren eine Priorität gegeben: „An erster Stelle stand immer die Frage: Was ist gut für Europa? Erst an zweiter Stelle kam für mich: Was ist gut für Deutschland?“
Wer immer Schäuble vorwirft, er habe Europa unterjochen wollen, verkennt oder ignoriert, dass es wenige Politiker in der deutschen Nachkriegsgeschichte gegeben hat, die so sehr von der Idee der europäischen Einigung überzeugt waren und sind. Man kann das, was in diesem Prozess bisher herausgekommen ist, finden wie man will – Schäuble hat Deutschland mehr denn je in der Funktion als wirtschaftliche Schutzmacht Europas verankert.
#5 Offenheit
Als Schäuble das Amt des Finanzministers antrat, war er 67 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen und hatte von Ökonomie, entgegen seinem großen Selbstbewusstsein, wenig Ahnung. Sein Englisch war eingerostet, und das Reisen eine Zumutung. All jenen Ökonomen, die ihm die Krise und die Welt der Finanzmärkte erklärten, begegnete er mit Misstrauen oder gar Verachtung. Dennoch trat er das Amt an – aus Pflichtbewusstsein, aber auch aus einer Lust und Neugier am Neuen.
Er nahm nicht nur noch einmal Englischstunden, er flog nicht nur im Wochenrhythmus durch die Welt, er machte das Finanzministerium zum zweiten (und vielleicht wichtigeren) Außenministerium, er arbeitete sich ein in die Logik von Finanzmärkten, Geldpolitik und Regulierung. Am Ende dieser acht Jahre räumt er ein: Er habe unendlich viel gelernt. Dass Globalisierung keine Bedrohung, sondern für jeden eine persönliche Herausforderung ist, an der man wachsen und die man meistern kann, verkörpert kaum jemand besser als dieser 75-Jährige.
Dies ist, jenseits aller klugen Taktiererei, die zweite große Lehre, die Schäuble seinen Kritikern (und seinen Nachfolgern) auf den Weg gibt: Man ist niemals fertig. Wer glaubt, alles schon zu wissen, weiß in Wahrheit gar nichts.
All jenen, die jetzt denken, nach Schäubles Abgang sollte und müsste künftig in der deutschen und europäischen Finanzpolitik alles ganz anders laufen, sollte dies eine Warnung sein.