Durch Homeoffice und Social Distancing haben sich viele Lebensgewohnheiten in der Corona-Pandemie gewandelt. Dass sich das ständige Zuhausebleiben auch beim Gang auf die Waage bemerkbar macht, erscheint da plausibel. Das Marktforschungsinstitut Forsa ist dieser Vermutung im Auftrag der Technischen Universität München nachgegangen und kam Anfang Juni zu dem Fazit: „Corona befeuert eine andere Pandemie“ – und zwar das Übergewicht der Erwachsenen in Deutschland. Dort heißt es weiter: „Im Durchschnitt liegt die Gewichtszunahme bei 5,6 Kilo.“
Die Nachricht von der deutlichen Gewichtszunahme in Pandemiezeiten nahmen schnell auch diverse Medien auf. „Gut fünf Kilo haben die Deutschen im vergangenen Jahr zugenommen“, schrieb Zeit online Anfang Juli. Auch mdr.de,das Sonntagsblatt und die Passauer Neuen Presse berichten von der deutlichen Gewichtszunahme in Pandemiezeiten.
Nur 1,5 Kilogramm mehr im Gesamtdurchschnitt
Was die Experten der „Unstatistik des Monats“ überrascht: Die Studien-Ergebnisse der TUM liegen deutlich über dem, was andere Institute erhoben haben. Als Beispiel nennen sie Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell“ des Robert-Koch-Instituts (RKI). Rund 23.000 Menschen ab 15 Jahren hat das RKI bundesweit zwischen April 2019 und September 2020 befragt. Hier lautet das Fazit allerdings: Die durchschnittliche Gewichtszunahme lag bei 1,1 Kilogramm.
Den Grund für die Diskrepanz von 4,5 Kilogramm liefert ein weiterer Blick in die Studienergebnisse der TUM. Denn die durchschnittlichen 5,6 Kilogramm extra, beziehen sich nur auf diejenigen Befragten – insgesamt 40 Prozent –, die zugenommen haben, erklären die Experten der „Unstatistik“. Es handle sich also um einen bedingten Mittelwert.
Etwas mehr als ein Zehntel der Befragten habe dagegen durchschnittlich um 6,4 Kilogramm abgenommen. Fast die Hälfte gab an, sie habe ihr Gewicht gehalten. Errechnet man den Gesamtdurchschnitt, ergebe sich eine Zunahme von knapp 1,5 Kilogramm. Das entspreche einer Veränderung des Body Mass Index von weniger als einem halben Punkt, ordnen die Experten der „Unstatistik“ ein. Damit liege das Ergebnis im Rahmen der statistischen Streuung.
Der TUM-Studie zufolge lassen sich allerdings auch einige Zusammenhänge identifizieren. „Je höher der Body Mass Index (BMI) der Befragten, desto häufiger geben sie an, dass sie seit Beginn der Pandemie zugenommen haben.“ Das besagt nichts anderes, als dass man mit einem relativ hohen Gewicht in der Vergangenheit eine Gewichtszunahme in der Zukunft gut vorhersagen kann, bilanzieren die Experten der „Unstatistik“. Das sei so wenig überraschend wie der gefundene Zusammenhang zwischen seelischer Belastung und „mehr essen“.
Gewichtszunahme schwankt je nach Studie
Auch das Statistische Bundesamt hat bereits die Gewichtszunahme in der deutschen Bevölkerung untersucht. Im August 2018 veröffentlichte es auf der Zahlenbasis von 2017 einen Sonderbericht, dem zufolge insgesamt knapp 53 Prozent der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig waren. Die Zahlen stammen aus einer Zusatzbefragung zum Mikrozensus.
Erfragt wurden Größe und Gewicht, aus denen sich dann der Body Mass Index als Maßstab für Unter-, Normal- bzw. Übergewicht berechnen lässt. Allerdings ist der BMI nicht unumstritten, merken die Experten der „Unstatistik“ an. Denn bei der Angabe des Gewichts werde nicht zwischen Muskeln und Fett unterschieden. Sportliche Menschen könnten damit ebenfalls als übergewichtig eingestuft werden.
Ein Blick auf weitere Studien zeigt, dass die Gewichtszunahme in der Deutschen Bevölkerung erheblichen Schwankungen unterworfen ist. 2013 waren laut dem Statistischen Bundesamt etwas mehr als 52 Prozent der Befragten übergewichtig, im Jahr 1999 „nur“ knapp 48 Prozent. Die Nationalen Verzehrstudie mit Daten von 2005/2006 zählte dagegen noch 58 Prozent der Deutschen als übergewichtig. Und laut einer weiteren RKI-Studie mit Daten von 2014/2015 waren vor fünf Jahren nur noch 54 Prozent der Befragten übergewichtig.
Befragte sind nicht immer ehrlich
Ein Teil der Veränderung, die das Statistische Bundesamt im Mikrozensus misst, habe demografische Ursachen, erklären die Experten der „Unstatistik“. So seien bei den 70- bis 74-Jährigen deutlich mehr Menschen übergewichtig als bei den 20- bis 24-Jährigen. Wenn die Bevölkerung altert und Menschen mit dem Alter zunehmen (aber dabei üblicherweise nicht wachsen, sondern eher schrumpfen), dann sind statistisch gesehen mehr Übergewichtige dabei, so das Fazit.
Der Unterschied zwischen den Studienergebnissen lasse sich aber auch in der Erhebung der Daten finden. Beim Mikrozensus, der Geda-Studie und TUM-Befragung sollten die Befragten Gewicht und Größe selbst angeben, bei der Nationalen Verzehrstudie wurden sie gewogen und gemessen. „Interessant ist dabei, dass die Verzehrsstudie ein wesentlich größeres Problem der Übergewichtigkeit in Deutschland aufzeigt“, sagen die Experten der „Unstatistik“. Deswegen sagten die Zahlen womöglich weniger über die Gewichtszunahme aus, als über die Bereitschaft der Befragten, beim Gewicht zu lügen.
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.
Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de . Im Campus Verlag erschienen ist das Buch „Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“ .