Tim Mois gründete vor rund 20 Jahren das Preisportal Billiger-telefonieren.de. Heute betreibt er den cloud-basierten Telefonanbieter Sipgate. Die Firma ist New-Work-Vorreiter: Es gibt keine Abteilungen, keine Gehaltsverhandlungen, keine Überstunden.
Durch Corona hat sich der Arbeitsalltag in vielen Branchen radikal verändert. Was hat sich durch die Pandemie für New-Work-Vorreiter für Sipgate geändert?
Wenn man so wie wir aus der Softwareentwicklung kommt, ist agiles Arbeiten der Kern und stark durch New Work beeinflusst. Unsere cross-funktionalen Teams müssen möglichst einfach kommunizieren können. Dafür ist man bestenfalls im gleichen Raum. Dieser Zwang, dieses Konzept jetzt aufzugeben und sich „remote“ neu zu orientieren, ist der große Paradigmenwechsel. Es gab zwar schon vor Corona Unternehmen, die so gearbeitet haben und mit Teams global verteilt waren. Das waren aber immer eher Ausnahmen, von denen alle gesagt haben: Die können das ja machen, aber bei uns würde das nie klappen. So haben wir auch gedacht und alles bei uns im Büro gemacht. Das Büro haben wir möglichst attraktiv gestaltet, dass man jeden Tag gerne hingekommen ist. Der Tag, an dem wir dann ins Homeoffice umgezogen sind, war ein harter Bruch. Aber wir haben gelernt, welche Strukturen man weiterhin sinnvoll und gut nutzen kann – wir gehen nicht wieder zurück ins Büro. Als Standard wollen wir drei bis vier Tage pro Woche Homeoffice integrieren. Die anderen ein bis zwei Tage nutzen wir dann für eine intensivere Zeit mit dem Team. Das wird wichtig.
Wichtig für New Work ist auch Flexibilität im Arbeitsalltag. Welche Rolle spielt sie bei Sipgate?
Flexibilität heißt nicht, dass ich etwas mache, was sich gerade in dieser Sekunde ergibt. Es heißt nur, als Team selbst herauszufinden, auf welche Weise man am besten arbeitet. Wir bei Sigpate sind zum Beispiel gar nicht flexibel beim Thema Arbeitszeit. Bei uns heißt es ganz klar: 40 Stunden ist das, was wir erwarten. Wir wollen auch keine 41 Stunden. Das Stundenbudget geben wir zwar vor – wie das Team das einsetzt, können sie eben flexibel selbst entscheiden.
Wie kann sichergestellt werden, dass Arbeits- und Privatleben nicht zu sehr miteinander verschmelzen?
Für mich liegt die Verantwortung beim Unternehmen. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen auch in Zukunft im Homeoffice arbeiten. Dafür muss das System aus Grenzen und Freiheit neu definiert werden. Gerade ein harter Rahmen, der vorgibt, dass man nicht mehr Stunden arbeitet, ist hilfreich, um die Trennung zu unterstützen. Es obliegt den Unternehmen, die entsprechenden Grenzen zu setzen und flexibel zu sein, wie zum Beispiel mit Arbeitszeiten.
Apropos Arbeitszeit: Sie haben Anfang des Jahres den Sechs-Stunden-Tag eingeführt. Warum?
Es gab zwei Auslöser. Zuerst haben wir bemerkt, dass die Produktivität im Homeoffice deutlich gestiegen ist. In diesen 40 Stunden ist mehr passiert. Wie kann das sein kann und wo kommt dieses Mehr her? Unsere Antwort: mehr Druck. Es kam die Frage auf, ob wir den Deal zwischen den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern anpassen müssen, damit nicht mehr Druck entsteht und auch nicht mehr herauskommt. Denn das würde eine nicht-nachhaltige Situation erzeugen. Im ganz Konkreten merkten wir auch, wie die Stimmung litt. Lockdown, Winter, keine Retreats im Büro. Wir haben überlegt, wie wir darauf reagieren sollen. Aus verschiedenen Vorschlägen wie einer Vier-Tage-Woche oder zusätzlichen Urlaubstagen haben wir schlussendlich den Sechs-Stunden-Tag gewählt. Dieser ist für alle gleichermaßen umsetzbar und hat jeden Tag einen Effekt. So haben wir das sechs Wochen lang gemacht.
Wie sieht das Feedback der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus?
Wir haben das strukturiert abgefragt. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schickten uns Video-, Audio- und Textdateien, wie es ihnen ergangen ist. Im Grunde haben alle das gleiche gesagt: Es hat ein wenig gedauert, bis man sich neu arrangiert hatte. Schlussendlich haben sich aber alle gut damit gefühlt. In sechs Stunden wird die Arbeit dichter und konkreter , aber wir konnten nicht feststellen, dass wir weniger geschafft hätten. Der Zeitgewinn wirkte sich bei der Mehrheit zugunsten des Privatlebens aus. Ich hörte Aussagen wie: „Ich konnte mit den Kindern raus“. Es war kein reines Studienexperiment, sondern es sollte auch direkt einen Effekt haben um besser durch den dunklen Lockdown-Winter gehen zu können – erfolgreich.
Was plant Sipgate als nächstes?
Als nächstes wollen wir unsere Retreats wiederbekommen. An dieser Stelle haben wir letztes Jahr sehr gezerrt. Es fehlt, mit dem Team auf dem Campus zu diskutieren und die nächsten Wochen zu planen. Das bei schönem Wetter unter Orangenbäumen und bei guter Laune. Für die Stimmung war das ein wichtiger Faktor. Nun warten und hoffen wir, dass das bald wieder möglich ist.
Wie wird sich New Work in 2021 weiterentwickeln?
In das Homeoffice werden wir noch viel Arbeit hineinstecken müssen im nächsten Jahr. Ich glaube, dass die Pandemie einen sehr durchschlagenden Einfluss auf die Arbeitswelt insgesamt haben wird. Auch dauerhaft. Verschiedene Effekte werden sich gegenseitig verstärken. Von Mietpreisen in Städten bis hin zur CO2-Bilanz durchs Pendeln . Es kommt viel zusammen, das mit drei oder vier Tagen Homeoffice gut zu beantworten ist. Deshalb gehe ich davon aus, dass alle ein Interesse daran haben herauszufinden, wie das geht. Auch die anderen Unternehmen, mit denen ich spreche, merken eine ähnliche Stimmung.
Stellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit der Pandemie andere Ansprüche an die Arbeit?
Das auf jeden Fall! Wenn Wohn- und Arbeitsort weit auseinanderliegen, kann man nicht jeden Tag pendeln. Den Unternehmen steht dahingehend ein Änderungsprozess bevor. Der Trend zeigt in die gleiche Richtung: Die großen Unternehmen arbeiten auf das Homeoffice hin. Das stellt mittlere und kleinere Unternehmen vor Herausforderungen. Können diese sagen, sie bieten kein Homeoffice an? Man kann sicherlich Nischen erzeugen, bei denen es kein Homeoffice gibt. Aber so als Unternehmen in eine führende Position zu gelangen, halte ich fast für ausgeschlossen. Die Anzahl der potenziellen neuen Arbeitskräfte würde das verringern. In Zeiten von Fachkräftemangel und dem aktuellen demografischen Wandel ist das nicht ideal. Es ist noch Arbeit zu leisten, wird aber einen nachhaltigen Effekt haben.
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