Als Reinhard vor gut 30 Jahren das Unternehmen seines Vaters übernahm, liefen bei der Übergabe so viele Dinge schief, dass er sich schwor, bei seiner eigenen Übergabe alles anders zu machen. Das Unternehmen ist heute ein gesunder Mittelständler in der Zulieferindustrie und Reinhard ein positiver, unaufgeregter Unternehmer Mitte 60. Reinhard hat seinen Sohn Jan nie gedrängt, den Laden zu übernehmen, sich jedoch sehr gefreut, als dieser den Wunsch anmeldete.
Jan ist ähnlich cool wie sein Vater und hat nach dem Studium fünf Jahre bei einem Autohersteller in der Entwicklung gearbeitet, um zu lernen, für wen er später produziert. Jans Einstieg haben beide generalstabsmäßig geplant: Er hat im ersten Jahr das gesamte Unternehmen durchlaufen, von der Buchhaltung bis zur Produktion. Dann hat er noch zwei Jahre als rechte Hand seines Vaters mitgearbeitet, bevor dieser sich allmählich verabschieden wollte.
Der schwierige letzte Schritt vor der Unternehmensübergabe
Das, was sich am Ende jedoch am schwierigsten gestaltete, war der letzte Schritt: Ab wann würde Jan tatsächlich übernehmen? Ich bekam einen Anruf des kaufmännischen Leiters, den ich von früher kannte. Das Unternehmen sei in einem merkwürdigen Zustand „zwischen Baum und Borke“. Der Senior gehe nicht mehr wirklich in die Verantwortung, der Junior aber auch nicht, und das sei anstrengend für alle Beteiligten.
In Einzelgesprächen klagte mir der eigentlich stolze Vater sein Leid: Sein Sohn habe sich sehr gut eingefunden und werde von der Belegschaft geschätzt. Aber jetzt, wo es darauf ankäme, wirklich Verantwortung zu übernehmen, sei er zögerlich und entscheidungsschwach. Das verunsichere ihn als Vater sehr. Aber er wolle ihm noch etwas Zeit geben.
Keiner war verantwortlich – weder Vater noch Sohn
Jan hingegen machte keinen besonders zögerlichen Eindruck. Eher einen genervten, weil sein Vater ihn zwar hervorragend auf alles vorbereitet hatte, ihn aber jetzt, wo es ums Loslassen ging, nicht ans Ruder ließ. Er wolle jetzt aber auch nicht zu fordernd sein und seinen Vater bestimmen lassen, wann es so weit sei.
Es bedurfte eines gemeinsamen moderierten Gesprächs, um das Vakuum aufzuheben und den Moment der Staffelstabübergabe festzulegen. Anfang des zweiten Halbjahres würde Jan formal übernehmen, und Reinhard würde das auf dem Sommerfest offiziell kommunizieren. Genau so lief es dann auch.
Die Geschichte zeigt, wie bei einer Unternehmensübergabe trotz guter Vorbereitung der letzte Schritt zu einer Riesenhürde werden kann – aus gegenseitiger Wertschätzung, Rücksichtnahme und Angst vor dem letzten Schritt. Oft sind es genau diese zwischenmenschlich sensiblen Momente, in denen eine helfende Hand den Unterschied macht. Das muss noch nicht einmal jemand von außen sein. Bloß jemand, dem beide Seiten gleichermaßen vertrauen.
Anne Weitzdörfer begleitet als Beraterin und Coach seit vielen Jahren Unternehmen und Führungskräfte. Hier schreibt sie jeden Monat über Themen aus der Berufswelt. Hier finden Sie weitere Folgen von Business as usual