Johanna ist eine sehr kluge und introvertierte Frau Ende 30 mit einem hohen Anspruch an sich selbst. Sie hat Informatik studiert und als Software-Entwicklerin angefangen. Heute ist sie Chief Technology Officer eines Start-ups, das erfolgreich eine Reiseplattform betreibt, ihr Team hat über 100 Entwickler.
Und obwohl die vergangenen Jahre bereits harte Arbeit und das Team und sie selbst erschöpft waren, ließ sie sich in langen Diskussionen von ihren drei Kollegen im Management-Team überzeugen, einen weiteren Investor an Bord zu holen, um noch schneller wachsen zu können. Bloß unterschätzten alle, was das für sie bedeuten würde.
Als Erstes schraubte der Investor die ohnehin anspruchsvollen Ziele für die nächsten zwei Jahre noch mal höher. Und obwohl alle wussten, dass diese vollkommen unrealistisch waren, ließen sich ihre drei Management-Kollegen darauf ein. Es gab einen handfesten Streit, Johanna zog den Kürzeren. Am schlimmsten jedoch empfand sie die Art, mit der die anderen ihre Bedenken beiseite wischten. Und das, obwohl Johanna die Umsetzung verantwortete.
Johanna fühlte sich nicht nur von ihren Kollegen verraten, sondern auch mit der Umsetzung allein gelassen. Sie konzentrierte sich in der Folge aufs Tagesgeschäft, während ihre drei Kollegen ständig die Nähe zum Investor suchten – aus Johannas Sicht, weil sie gefallen wollten.
Zermürbende Monate
Als Johanna das thematisierte, erntete sie nur Unverständnis: Der neue Investor sei großartig, es sei wichtig, sich zu vernetzen, es gebe „tolle Business-Opportunities“, sie solle sich doch bitte einfach mal einlassen. Johanna zog sich frustriert zurück. Und rieb sich in den kommenden Monaten zwischen den anspruchsvollen Zielen und der Fürsorge für ihr eigenes Team auf.
Bis zum Einstieg des neuen Investors waren die vier Chefs eine eingeschweißte Truppe gewesen. Jetzt war der Druck so gewachsen, dass daran in den darauffolgenden, sehr zermürbenden Monaten nicht nur das gemeinsame Commitment, sondern schließlich auch das Management-Team selbst zerbrach. Johanna verließ das Unternehmen als Letzte.
Rückblickend sagt Johanna, diese Phase sei für sie sehr ernüchternd gewesen, aber auch: sehr lehrreich. Sie sei erwachsen geworden und habe eine große Portion der Naivität verloren, mit der sie sich in der Berufswelt bewegt hätte. Aber leider auch einen großen Teil der Leidenschaft, mit der sie bis dahin ihren Job gemacht habe.
Die Geschichte ist beispielhaft dafür, was passieren kann, wenn durch unrealistische Pläne der Druck und schließlich die resultierenden Fliehkräfte zu groß werden. Etwas, das Sie bei der Verhandlung von anspruchsvollen Zielen insbesondere in jungen Teams im Hinterkopf haben sollten!
Anne Weitzdörfer begleitet als Beraterin und Coach seit vielen Jahren Unternehmen und Führungskräfte. Hier schreibt sie jeden Monat über Themen aus der Berufswelt. Hier finden Sie weitere Kolumnen aus der Reihe Business as usual