Zum ersten Mal wurde ich auf Richard B Spencer durch einen schrecklichen Tweet aufmerksam. Er hatte das allgegenwärtige Foto des syrischen Jungen mit blut- und dreckverschmiertem Gesicht getwittert und dazu geschrieben: „Hey, lasst uns für diesen f***king Jungen WWIII beginnen!“ Wie die meisten Leser war ich empört. Natürlich war genau das der Zweck des Tweets. Anders als viele andere Gleichgesinnte postet Spencer unter seinem echten Namen. Er genießt den Ärger, den er auslöst.
Provokation ist das Ziel der sogenannten Alt-right-Bewegung, der amorphen Welt rechter Extremisten, die im Zeitalter des Donald Trump aufgeblüht ist. Internet-Meme wie das des syrischen Jungen sind ihre Waffen. Bekanntheit ist ihr Sauerstoff. Die vergangenen zwei Jahre waren ein Fest für sie. „Egal was passiert, werde ich den Rest meines Lebens dankbar für Trump sein“, sagt Spencer.
Nach dem wohl übellaunigsten Wahlkampf, den es je gab, trifft Amerika am Dienstag seine Entscheidung. In die Geschichtsschreibung könnte das Jahr 2016 als dasjenige eingehen, in dem die Amerikaner zum ersten Mal eine Frau zur Präsidentin wählten. Oder als das Jahr, in dem die amerikanische Nachkriegs-Weltordnung zu zerfallen begann. Manche aber werden sich an 2016 als das Jahr erinnern, in dem ein Außenseiter – ein Star des Reality-Fernsehens – die Zitadelle erstürmte und die Spielregeln veränderte.
Die Politik hat die sozialen Medien in Gift getränkt
Ich habe in Amerika mit Unterbrechungen seit Ende der 90er-Jahre gelebt. Für mich ist 2016 das Jahr, in dem der Demokratie allmählich das Gefühl für Mäßigung verloren ging. Der Klebstoff des gegenseitigen Respekt, der für jede freie Gesellschaft überlebenswichtig ist, hat sich gelöst. Die Menschen halten sich nicht mehr damit auf, sich gegenseitig überzeugen zu wollen. Sie knallen Dir ihre Ansichten – oder den bloßen Fakt ihrer Identität – vor den Latz. Oder beleidigen dich einfach. Je mehr Retweets desto besser.
Soziale Medien haben viele Vorteile. Aber die Politik haben sie in Gift getränkt. Die neue Technologie hat eine Galaxie des Denkens geöffnet, die früher Bibliotheken vorbehalten war. Aber zugleich hat sie uralten Vorurteilen den Weg in den Mainstream geöffnet. Antisemitismus zum Beispiel, und Hass gegen Frauen. In den letzten Monaten haben die Twitter-Hashtags #whitegenocide (wonach die Weißen durch den Multikulturalismus bedroht sind) und #repealthe19th (für eine Aufhebung des 19. Verfassungszusatzes, der Frauen das Wahlrecht gibt) stark getrendet.
Das Streben nach Berühmtheit hat alle Seiten des Spektrums infiziert, aber die Rechte hat gelernt, das Spiel besser zu spielen. Gerade auch weil sie gegen Political Correctness aufbegehrt, setzt sie sich weniger Grenzen – oder gar keine. Das Vertrauen zwischen den Gewählten und den Wählern schwindet seit Jahren, 2016 aber hat die Wählerschaft begonnen, sich brutal gegen einander zu wenden. Ist das nur eine Momentaufnahme oder eine bleibende Veränderung? Die Zukunft der freien Gesellschaft könnte von der Antwort auf diese Frage abhängen. Demokratie kann in einem Morast der gegenseitigen Ablehnung auf Dauer nicht gedeihen.
Eines der zentralen Merkmale der sozialen Medien ist Anonymität. Wenn Sie zu jemand eine unmittelbare Beziehung haben, fällt es schwerer, im Wutmodus zu bleiben. Alles, was ich über Richard Spencer wusste, deutete darauf hin, dass unsere Konversation kurz ausfallen würde. Doch es entwickelte sich ein längerer Austausch, als ich erwartet hatte.
„Trump ist eine Erweckung“
Spencer gilt gemeinsam mit Jared Taylor, dem Gründer der nationalistischen weißen Gruppierung American Renaissance, als Vater von Alt-Right. Es war Spencer, der den Begriff erfunden hat. Er ist 38 und gehört damit eher zu den Älteren unter den Aktivisten. Die Bewegung messe ihre Erfolge in Dekaden, sagt Spencer. „Trump ist eine Erweckung“, sagt er. „Was immer passiert, der Krieg wird weitergehen.“
Selbst wenn die USA jede Einwanderung stoppen würden, wären die Weißen im Land 2055 eine Minderheit. Ändert sich nichts, wird dieser Punkt wahrscheinlich schon eine Dekade früher erreicht. Spencer glaubt, dass Political Correctness die amerikanische Gesellschaft zerstört. „Indem die Gesellschaft die Verschiedenheit jedes Einzelnen hervorhebt, hat sie den Weißen ihre ethnische Identität bewusst – und sie wütend gemacht“, sagt er. „Amerika steuert auf einen großen Bruch zu. Und ich bin sicher, dass ich den noch erleben werde.“
Das Ziel von Alt-Right sei es, ein „amerikanisches Nationalbewusstsein in einer kosmopolitischen Welt zu schaffen“, sagt Spencer. Die Frage sei, wie man dies erreichen könne. Anders als ich es erwartet hatte, ist Spencer gebildet. Er hat an der University of Virginia und dann in Chicago studiert, eine Dissertation an der Duke University begonnen, dann aber abgebrochen. Sein Hauptfach war Englisch, im Laufe der Zeit hat er sich aber immer mehr der Philosophie zugewandt. Am stärksten beeinflusst hat ihn erst Friedrich Nietzsche, dann Martin Heidegger, der Philosoph, den die Nazis feierten. Und schließlich der englische Konservative Roger Scruton.
Wie die meisten in der Alt-Right-Bewegung verabscheut Spencer Auslandseinsätze des Militärs, vor allem für humanitäre Missionen. Deswegen auch der Tweet zu dem syrischen Jungen. Ein anderer Tweet, den er in seiner Publikation Radix Journal veröffentlicht hat, zeigt diejenigen, die er für die Schuldigen an Amerikas Kriegen der Wahl hält: Eine Galerie von 16 Neokonservativen der Bush-Ära, darunter Paul Wolfowitz, Eliot Cohen und Richard Perle. Darunter steht: „Architekten des illegalen Irakkriegs. Und nun sie (Hillary Clinton)“. Umrahmt ist das Ganze von einem Satz: „Hm, was haben all diese Leute gemeinsam? #Koinzidenz.“ Die Antwort lautet natürlich: Sie sind Juden.
Emotionen statt Argumente
Alle paar Tage nimmt eine Gruppe Alt-Righter einen Podcast mit dem Namen „Daily Shoah (das hebräische Wort für den Holocaust)“ auf. Spencer taucht darin regelmäßig auf. Die Teilnehmer sind „Death Panellists“ (Schiedsrichter über Leben und Tod). Spencer begrüßt öfters seine „lieben Goi“ (das hebräische Wort für Nichtjuden). Subtiler als das wird es nicht. Sie legen auch großen Wert auf Stil. Viele ihrer Hashtags beginnen mit #fash, das die Wörter „fashion“ und „faschistisch“ verschmilzt. Mussolini war ein „#fasharapper“.
Immer wenn Spencer oder einer seiner Follower über eine jüdische Person twittern oder über jemanden, den sie für philosemitisch halten, setzen sie vor und hinter den Namen drei Klammern. Es ist die Twittersphären-Version des gelben Sterns. Um das Symbol zu unterlaufen, haben jüdische Journalisten (((wie viele andere))) begonnen, das gleiche zu tun.
Ich frage Spencer, warum er das macht. Er scheint durchdachter Argumente fähig zu sein, auch wenn seine Ansichten abstoßend sind. Aber er entscheidet sich anders. „Wir leben im post-literarischen Zeitalter“, sagt er. Während der Aufklärung hätten die Menschen ihre Ansichten über Bücher vorgebracht. Alles sei über das geschriebene Wort vermittelt worden. Nun sind wir auf dem Weg zurück in das voraufklärerische Zeitalter. Die Menschen haben die Bibel damals nicht gelesen, sondern sie angesehen. Ein geschicktes Meme nutzt vielleicht einen kurzen Text, aber im wesentlichen ist es ein Bild oder ein Video, das Emotionen anspricht. „Wie Hieroglyphen oder ein buntes Fenster“, sagt er. Je mehr es packt, desto besser.
Das vielleicht beste Beispiel ist Pepe der Frosch. Was einmal eine harmlose Komikfigur war, ist online zu einem Symbol weißer Macht geworden. Pepe taucht auf als Donald Trump, als Mitglied des Ku-Klux-Klans, als sexueller Jäger oder Soldat einer Nazi-Sturmtruppe. Wie bei den Gruselclowns ist es Pepes unschuldige optische Erscheinung – eine knallgrüne Kröte mit hervorquellenden Augen –, die ihn so bedrohlich wirken lässt. „Pepe ist dieser eingebildete Badass, der sich einen Dreck schert – das macht ihn so cool“, sagt Spencer.
Anonymes Trollen
Wie andere Bewegungen veranstaltet Alt-Right Konferenzen, hält Reden und füttert die metastasierende Onlinewelt der nationalistischen weißen Nachrichtenseiten. Aber ihr wirklicher Treibstoff ist anonymes Trollen. Man muss nur eine durchschnittliche Kommentarfunktion durchlesen, um von jeder Illusion einer sokratischen Demokratie geheilt zu werden. Jemand hat mal gesagt, Trumps Kandidatur sei, als „würde sich die Kommentarfunktion für das Präsidentenamt bewerben“. Twitter ist, wenn die Kommentarfunktion Amok läuft. Und dort bekommen die Memes das meiste für ihr Geld.
„Sie lassen Leute stärker etwas fühlen als denken“, sagt Spencer. „Das ist ihre geballte Kraft.“ Ich frage ihn, welche Gefühle sein mitleidloser Tweet zu dem syrischen Jungen auslösen soll. „Was für Gefühle sollte das ursprüngliche Bild auslösen?“, fragt Spencer im Gegenzug. „Dieses Foto wurde immer wieder von humanitären Liberalen gepostet, um Unterstützung für eine militärische Intervention der USA in Syrien zu generieren. Diese Leute haben keine rationale Argumentation geführt. Sie haben Ihr Mitleid ausgenutzt, damit Sie ein weiteres Auslandsabenteuer mittragen, das Amerika weiter schwächen würde. Soll das besser sein als das, was ich gepostet habe?“
Und was ist mit seiner antisemitischen Darstellung der Neokonservativen? „Vielleicht sind nicht alle Juden Neokonservative, aber alle Neokonservativen sind Juden“, antwortet er. „Sie nennen (das Meme) antisemitisch. Ich sage, es enthält relevante Informationen.“
Wo also ist für ihn die Grenze? Online-Verhalten hat Offline-Folgen. Spencer weiß, dass Bildersprache Gefühle erzeugt, die Handlungen in der realen Welt auslösen können. Genau darum geht es ihm mit Sicherheit. Als die Washingtoner Journalistin Julia Ioffe, die Jüdin ist, im Mai einen Artikel geschrieben hatte, der Melania Trump ärgerte, wurde Ioffe von Online-Neonazis wüst bedroht. Sie stellten ihre Adresse und Telefonnummer ins Netz - eine Praxis, die „doxing“ heißt. Jemand hackte Ioffes Konto und bestellte einen Sarg zu ihr nach Hause. Jemand anderes beauftragte eine Tatortreinigung.
„Es war purer archaischer biologischer Hass“
Spencer kennt den Fall Ioffe. „Für mich gibt es eine Grenze bei jeder Art von persönlicher Bedrohung. Das ist es nicht, was ich will“, sagt er. Für mich klingt das wie eine spitzfindige Unterscheidung. Denn parallel zu den expliziten Todesdrohungen wurde Ioffe auf Twitter und anderen sozialen Medien mit schaurigen Erinnerungen an den Holocaust bombardiert. Sie geriet außerdem ins Visier von Breitbart News, der Rechtsaußen-Internetseite, deren früherer Chef Stephen K Bannon inzwischen Trumps Wahlkampf organisiert. Die schlimmsten Angriffe kamen vom „Daily Stormer“, einer offen nazistischen Internetseite. Dort wurde ein Foto der siebenjährigen Ioffe aus ihrem Facebook-Konto auf Lampenschirme, Seifen und so weiter aufgebracht. In ihrer Post fand sie eine Kaffeetasse, auf der ihr Gesicht per Photoshop auf eine Häftlingsuniform mit einem gelben Stern montiert worden war. Darauf stand: „Willkommen im Lager Trump.“
Die Flut der Angriffe war weitgehend anonym. Die 32-jährige Ioffe, die in Russland geboren ist und ihre ersten sieben Jahre verbrachte, sagt, sie sei gewohnt, mit bösartigen Trollen umzugehen. Sie hat viel davon abbekommen, während sie Korrespondentin in Moskau war. Trotzdem gab es manches, was sie an den Vorfällen nach dem Melania-Trump-Artikel beunruhigt hat. Die Sprache war offen nazistisch. „In Russland würde einem vorgeworfen, ein Mossad- oder CIA-Agent zu sein“, sagt sie. „Das hier war anders. Es war purer archaischer biologischer Hass“. Sie wurde als „schmutziger jüdischer Itzig“ und Schlimmeres beschimpft. Auch bei ihren Eltern, die Moskau verlassen hatten, um der „Glasdecke“, die es dort für Juden gebe, zu entkommen. „Es gibt keine größeren Patrioten als meine Eltern. Aber was sie in jüngster Zeit erlebt haben, hat ihren Glauben an Amerika beschädigt. Sie hatten nicht erwartet, dass der Hass ihnen in die Neue Welt folgt.“
Beunruhigt hat Ioffe auch die Unverfrorenheit ihrer Online-Trolle. Noch vor zwei Jahren seien diese zurückgeschreckt, wenn sie sie konfrontiert habe. Nun kämen sie doppelt so hart zurück. „Sie fühlen sich obenauf. Sie schämen sich offenbar nicht mehr für ihre Ansichten.“ Am meisten verstört hat sie ein anderer Vorfall. Sie hatte einen Skype-Anruf angenommen im Glauben, dass es ihre kranke Großmutter in Moskau war. Stattdessen hörte sie die Aufnahme einer Rede Hitlers in Nürnberg. „Wie viel Vorbereitung wendet jemand dafür auf?“, fragt sie.
Die Sorge ist sicher übertrieben, dass eine große Zahl von Amerikanern plötzlich zu Antisemiten geworden ist. Aber ein kleiner Zirkel von Neonazis hat herausgefunden, wie er seine Botschaft durch Twitter, Breitbart News und 4chan (eine Meme-Fabrik der Alt-Right, die auch ein Heiligtum der japanischen Comicstrip-Kultur ist) verbreitet. Die jüdische Organisation Anti-Defamation League (ADL) hat jüngst eine Studie zum Online-Antisemitismus veröffentlicht. Danach kamen 68 Prozent der gegen Journalisten gerichteten judenfeindlichen Tweets von nur 1600 Konten. „Werden sie verschwinden, wenn Trump verloren hat? Ich bezweifle es“, sagt Ioffe. „Aber irgendwie ist es beruhigend zu wissen, dass das meiste von einem Haufen trauriger Männer kommt, die zu Hause herumsetzen und ihre Wut an anderen auslassen.“
Tröstlich vielleicht auch, dass der Humor lebt. Eines der besten Beispiele ist Yair Rosenberg, der für die jüdische Zeitung Tablet arbeitet und in der ADL-Liste als zweithäufigstes Ziel der Twitter-Angriffe rangiert. „Meine 12.000 Follower werden freien Eintritt zu dem Treffen erhalten, auf dem wir Juden über den republikanischen Präsidentschaftskandidaten entscheiden“, twitterte er im April 2015. Sechs Minuten später, nachdem jemand, der sich Franz Sturmführer nannte, den Tweed aufgenommen hatte, schrieb Rosenberg: „Oh super, das wird nun ohne jede Ironie von echten Antisemiten retweetet.“ Herr Sturmführer verschwand prompt.
Sind unsere Befürchtungen also übertrieben? Besteht Twitter schlicht aus einem Haufen frustrierter Männer, die ein einst vielversprechendes Geschäftsmodell ruinieren? Zum Teil stimmt das. Aber zwei Aspekte stimmen nachdenklich. Erstens war Twitter der Turbobeschleuniger für Trumps Kandidatur. Noch heute, unmittelbar vor der Wahl und mit nur einer Handvoll Medienleute, macht Trump politische Ankündigungen über Twitter. Oftmals in den frühen Morgenstunden und manchmal im Widerspruch zu früheren Tweets. Ganz so, wie er selbst getwittert hat: „Ich liebe Twitter – es ist, als hätte man eine eigene Zeitung – nur ohne die Verluste!“
Twitter laviert herum
Zweitens ist Twitters Universum mit 313 Million aktiven Nutzern größer als das aller englischsprachigen Zeitungen zusammen. Die Zahl der Nutzer hat sich in den letzten vier Jahren beinahe verdoppelt. Wenn Twitter ein sterbendes Medium ist, was sind dann die Zeitungen? Wäre Twitter nicht von Wagniskapitalgebern des Silicon Valley gegründet worden, für die die Uber-Bewertung der Maßstab ist, die Welt hielt es für eine Erfolg.
Zum Bedauern vieler höflicher Mitglieder scheint Twitter nicht genau zu wissen, was es sein will. Niemand will es kaufen. Es könnte aufräumen, indem es sich zu einer eindeutigen Politik der Kontensperrung bei Missbrauch bekennt. Gelegentlich verbannt Twitter zwar Leute. So warf es den britischen Technologieredakteur von Breitbart News, Milo Yiannopoulos hinaus, der 338.000 Follower hatte. Er soll rassistische Angriffe gegen die schwarze Schauspielerin Leslie Jones angefacht haben. Aber das war eine Ausnahme. Nicht einmal ein Fünftel der Konten, die ADL als antisemitisch identifiziert hatte, wurde deaktiviert. Twitter könnte außerdem softwaregesteuerte „Bots“ verbieten. Vorläufig aber zieht man es vor, sich dem Greshamschen Gesetz zu unterwerfen: Das Böse vertreibt das Gute. Womöglich gilt Ähnliches auch für die westliche Demokratie sagen.
Selbst wenn Twitter verschwinden würde, würde ein neuer Avatar an seine Stelle treten. „Technologie vermittelt nur“, sagt Jean Twenge, Autor von „The Narcissism Epidemic“. „Das Problem kommt aus der Gesellschaft.“ Es gibt beunruhigende Hinweise, dass die nach 1995 geborenen Jugendlichen besonders anfällig für Online-Wut sind. Twenge nennt sie die iGen, weil sie die erste Generation sind, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Nur drei Prozent der Amerikaner über 65 leiden unter klinischem Narzissmus verglichen mit zehn Prozent der unter 30-Jährigen. Twenge macht dafür teilweise die heutige Erziehung verantwortlich. „Kindern wird ständig gesagt, dass sie etwas Besonderes sind. Ihnen wird eingeredet, dass sie alles erreichen können, wenn sie sich nur darauf konzentrieren“, sagt er. „Wenn diese Kinder herausfinden, dass das nicht stimmt, werden manche von ihnen wütend.“
Die Forschung zeigt auch, dass je mehr Zeit jemand online verbringt, er desto weniger Empathie empfindet, ein klassisch narzisstischer Charakterzug. Vieles von dem, was heute als normales Verhalten gilt – das eigene Leben vor Fremden auszubreiten, sich zu vermarkten, um glücklicher zu scheinen als man ist – verdankt seine Akzeptanz dem, was Twenge „Celebrity super-enabler“ nennt. Für junge Frauen kann das Kim Kardashian sein, die Exhibitionismus zum Geschäftsmodell gemacht hat. Für wütende weiße Männer jeden Alters ist es Trump, der die Political Correctness auf einem großen Freudenfeuer verbrannt hat. „All diese Vorurteile, von denen wir dachten, dass sie dabei sind zu verschwinden, sind plötzlich wieder OK. Weil der republikanische Präsidentschaftskandidat es sagt“, so Twenge. „Trump hat grünes Licht gegeben.“
Humorist die Waffen gegen Rassisten
Daraus folgt nicht, dass die Wut verschwindet, wenn Trump am Dienstag vor einer roten Ampel steht. Manche – alle, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe – sagen voraus, dass sie im Gegenteil wachsen wird. Selbst wenn er den Wahlausgang akzeptiert, was fraglich ist. Richard Spencer sieht das so. Und auch Hend Amry, Twittername @Libyaliberty, Nutzerin mit hoher kinetischer Energie.
Amry ist Muslima, in den USA geboren. Es gibt auf Twitter nicht viele muslimische Frauen mit Kopftuch, die derart scharfe Bemerkungen in Englisch austeilen. Wie Spencer, mit dem sie nichts zu tun haben will („es gibt einige abscheuliche Einzelne“) liebt sie Shakespeare. Sie hat Englisch an der University of Maryland studiert. Wie bei Ioffe sind ihre Eltern in die USA gezogen, um Unterdrückung zu entgehen. Ihr verstorbener Vater hat Amerika geliebt.
Amrys Trolling-Leidensweg begann nach den Terroranschlägen von 2011, Jahre vor dem Start von Twitter. „Ich habe plötzlich festgestellt, dass ich eine Fremde in meinem eigenen Land bin“, sagt sie. „Leute haben mir offen ins Gesicht gesagt, ich sei eine Terroristin. Einer hat mir den Hijab heruntergerissen. Immer noch sagen mir die Leute, dass ich eine unterdrückte Frau bin, wegen meiner Kleidung.“
Amry bezwingt ihre Kontrahenten mit unerschöpflicher Höflichkeit. Oft fragt sie: „Denken Sie, ich habe meinen Mann um Erlaubnis gefragt, bevor ich spreche?“. Ihre Waffe der Wahl ist wie die von Rosenberg: Humor. Als ich mit Amry sprach, musste ich unwillkürlich an Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ von 1940 denken. Indem er die skurrilen Eitelkeiten Hitlers und Mussolinis verspottete, trug Chaplin dazu bei, den Widerstand der Öffentlichkeit gegen Amerikas Kriegseintritt zu verringern.
Nie mit gleicher Münze zurückzahlen
Die Alt-Right brauchen keine Unterstützung, um sich selbst lächerlich zu machen. Hört man ein paar Minuten lang in den „Daily Shoah“ Podcast hinein, weicht die Beängstigung der Erleichterung. Ein paar junge Männer, die kichernd über Leute reden, die sie nicht mögen, ähneln weniger Joseph Goebbels als den Seriencharakteren Beavis und Butt-Head (etwa Vollidiot und Arschgesicht). „Als Muslima in Amerika lernst du schnell, dass das beste Instrument der Schwachen das Lachen ist“, sagt Amry. „Deine Angreifer wollen gefürchtet werden. Das ist ihre Währung. Gib sie ihnen nie.“
Mir gefällt Amrys grundlegender menschlicher Anstand – etwas, was oft zu verschwinden scheint, wenn jemand zu viel Zeit auf Twitter verbringt. Amry muss sich alle möglichen Beleidigungen anhören. Sie zahlt nie mit gleicher Münze zurück. Das gilt auch am Persischen Golf, wo sie nun lebt, und wo ihr manchmal vorgeworfen wird, Apologet Amerikas zu sein. „Wenn jemand sich hässlich benimmt, weiß ich, dass er tief drinnen unglücklich ist“, sagt sie. „Das sind einsame Menschen, die zuschlagen. Ich hoffe immer, ich kann das Bessere in ihnen ansprechen.“
Ihre Worte erinnern mich an Lindy West, eine feministische Autorin, die ein Opfer scheußlicher Online-Belästigung war. Kurz nachdem ihr Vater gestorben war, kopierte jemand sein Foto und eröffnete in seinem Namen einen Twitter-Account. Lindy West bekam Tweets von ihrem Vater mit Beleidigungen wie „fette Schlampe“. Obwohl sie fürchtete, dass es ein Fehler war, schrieb sie darüber, wie dieser Geisterauftritt sie verletzt hatte. Wahrscheinlich würde das ihren Quälgeist noch anfeuern. Doch stattdessen erhielt sie kurz darauf eine Email von ihrem Peiniger unter seinem echten Namen. Er könne „gar nicht sagen, wie leid es ihm tue“, schrieb der Mann. „Das war das Gemeinste, was ich je getan habe.“ Nachdem er ihr Stück gelesen habe, sei ihm klargeworden. „Es gibt einen lebenden atmenden Menschen, der diesen Scheiß liest. Ich greife jemanden an, der mir nie etwas getan hat. Und das ohne jeden Grund.“ Der Mann spendete 50 Dollar für das Krebsbehandlungszentrum ihres Vaters.
Es ist verführerisch, Wests Geschichte als ein Zeichen der Hoffnung zu sehen. Doch das könnte lebensfremd sein. Das Gift wird wohl nicht verdunsten. Die Offline-Kräfte, die Trumps Kandidatur betrieben haben, sind real. Manche davon sind nachvollziehbar, so wie die Verbitterung über die grenzenlose Selbstbeweihräucherung des reichen Amerika. Die angebliche Meritokratie ist nicht das, als was sie gepriesen wird. Für viele sieht es sogar eher nach Schwindel aus.
Und auch die Regeln der Political Correctness schreien geradezu nach einer Gegenreaktion. Wer hat dekretiert, dass mehr Aufregung darauf gerichtet wird, ob ein Football-Team Redkins heißen darf, als auf die Not der amerikanischen Ureinwohner? Wer hat entschieden, dass privilegierte Studenten „sichere Räume“ brauchen, die sie vor anderen Meinungen schützen? Es ist verständlich, wenn die Sorgen des liberalen Amerika diejenigen aufbringen, die sich als die Verlierer der Gesellschaft fühlen.
Diese Merkmale des modernen Amerika werden nicht verschwinden, auch wenn Trump haushoch verliert. Tatsächlich könnte die Wahl der ersten amerikanischen Präsidentin den Hass vergrößern. Wenn es eine Konstante der öffentlichen Beschimpfung gibt, dann die, dass sie Frauen härter trifft. Zum Besseren wie zum Schlechteren hat Technologie es erleichtert, alten Wein in neue Flaschen zu gießen. Vieles davon ist reiner Essig. Das Beste, was wir tun können, ist vielleicht, das Getränk auszuspucken. Die Welt anzulächeln und eine bessere Qualität zu verlangen.
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