„Kein Buchweizen“, steht auf einem handgeschriebenen Schild, das an einem leeren Regal im Dixy-Markt in Muron baumelt, einer Stadt ungefähr 300 Kilometer östlich von Moskau. In einem anderen nahegelegenen Supermarkt gab es Buchweizen aber laut einem Preisschild für 90 Rubel (etwa 2 Dollar) pro Kilogramm - mehr als doppelt so teuer wie vor einem Monat.
Nachrichten über eine schlechte Ernte haben zu Panikkäufen von Buchweizen geführt, einem beliebten Grundnahrungsmittel in Russland, wo er als Brei für das Frühstück gekocht, als Beilage zu Fleisch gegessen, in Suppen gegeben und zur Herstellung von Pfannkuchen verwendet wird.
Die plötzliche Knappheit veranlasste einige von Russlands größten Lebensmittelhändlern, Quoten zu verhängen. Ein Lenta Supermarkt in Sankt Petersburg teilte seinen Kunden mit, dass sie nicht mehr als fünf Pakete pro Tag kaufen dürften, um Schwarzmarkthandel zu verhindern. Das russische Statistikamt teilte vergangene Woche mit, dass der Preis für Buchweizen seit Monatsanfang um 27,5 Prozent nach oben geschossen sei.
Es droht keine ernsthafte Notlage - noch immer sind in Moskau die Ladenregale mit einer Vielzahl von Lebensmittel gefüllt. Aber die Buchweizenknappheit hat normalen Russen das Gefühl vermittelt, dass die wachsenden Wirtschaftsprobleme des Landes anfangen jeden zu treffen - nicht nur Moskaus Eliten, die des französischen Käses und anderer westlicher Nahrungsmittel beraubt wurden, die im August unter die Verbannung gefallen waren.
Rubelverfall löst Angst aus
„Das ist beinahe wie die Geschichten, die meine Großmutter mir über die Sowjetunion erzählt hat: Leere Regale und Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften“, sagt der Student Fjodor Zaitsew, der 1998 geboren wurde, lange nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und zwei Jahre bevor Präsident Wladimir Putin die Macht übernahm. Während seiner Kindheit waltete Putin über einen Wirtschaftsboom, der vom Öl angeheizt wurde und der die meisten Russen besser stellte als je zuvor.
Wenige in Russland würden der Behauptung widersprechen, dass die Dinge heute besser sind, auch wenn taumelnde Ölpreise, Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und ökonomische Strukturprobleme drohen, das Land in die Rezession zu stürzen. Aber während die Russen diese Probleme weitgehend in Kauf genommen haben, hat der scharfe Wertverfall des Rubel während der letzten Monate eine spürbare Angst verbreitet.
„Wir müssen auf der Hut sein weil dieses Verhalten einer sehr realen Angst entspringt. Die Menschen versuchen zu horten, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen“, sagt ein leitender Beamter des Landwirtschaftsministeriums. „Die Wechselkursschwankungen sind schuld daran. Die Menschen befürchten, dass die Dinge morgen teurer werden, sodass es besser ist, heute zu kaufen und eigentlich liegen sie mit dieser Vermutung nicht völlig falsch.“
Die Inflation hat sich auf mehr als acht Prozent beschleunigt und wird zum Jahresende bei neun Prozent erwartet, was weit über dem Ziel der Zentralbank von fünf Prozent liegt, sagt Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew. Gemäß seiner neuen Konjunkturprognose wird der Niedergang des Rubels mit vier Prozentpunkten zur Inflation beitragen.
Der Rubel ist seit Februar 2013 nach und nach schwächer geworden. In diesem Sommer hat die Talfahrt an Tempo zugelegt, als die Ukraine-Krise und der niedrige Ölpreis zu wirken begannen. In diesem Jahr hat die Währung gegenüber dem Dollar 40 Prozent an Wert eingebüßt. Aber im vergangenen Monat drohten die Dinge außer Kontrolle zu geraten, weil er zwischen dem 30. Oktober und 6. November in nur einer Woche gegenüber dem Dollar zwölf Prozent verlor.
Der Schritt der Zentralbank, den Rubel zu floaten und die kurzfristigen Darlehen an Russlands Banken zu begrenzen, schien erfolgreich Spekulationen eingedämmt und die starken Schwankungen beendet zu haben. Aber nach der Entscheidung der Opec, die Ölproduktion nicht zu drosseln, beschleunigte sich der Verfall.
Experten warnen, der Schaden sei bereits angerichtet. „Bis wir wieder Gelegenheiten bekommen, das Vertrauen von ausländischen Investoren und in den Rubel zurückzugewinnen, wird uns das sieben bis zehn Jahre unseres Wirtschaftswachstums kosten“, schrieb der frühere Finanzminister Alexej Kudrin.
Eine Rezession droht
Während das Wachstum des Bruttosozialprodukts geradeso über null schwebt, kann die dauerhafte Rubel-Schwäche die Wirtschaft leicht in die Rezession stürzen. „Wir erwarten, dass die Rubel-Abwertung weitergeht, obwohl das Tempo bei der Abwertung wahrscheinlich deutlich moderater ausfallen wird als wir es in letzter Zeit erlebt haben,“ sagte Wladimir Tichomirow Chefökonom bei der Moskauer Maklerfirma BCS Financial. Er spricht über ein „düsteres Bild von Russlands künftiger wirtschaftlicher Flugbahn“, und sagt voraus, dass die Wirtschaft nächstes Jahr um 0,7 Prozent schrumpfen wird.
BCS Financial sieht Anlageinvestitionen, die lange eine Wachstumsbremse gewesen waren, in einem steilen Sturzflug von fünf Prozent in diesem Jahr und neun Prozent in 2015 und prognostiziert, dass die Einzelhandelsumsätze, die bisher noch gewachsen waren, nächstes Jahr, wenn das Realeinkommen fällt, sinken werden.
Verzögerungen bei den Investitionen sind überall offensichtlich. Als Stadler, ein Schweizer Schienenfahrzeughersteller, letzte Woche die ersten 25 neuen Doppeldeckerzüge an Aero-Express lieferte, teilte das Unternehmen mit, dass es kämpfen müsse, um die Zahlungen für die 380 Mio. Euro umfassende Bestellung einzuhalten.
„Wir haben Darlehen in Rubel. Aber jetzt gibt es ein Problem“, sagte Alexej Kriworuschko, Vorstandschef von Aero-Express, ein Bahnunternehmen, das Moskaus Flughafen mit der Innenstadt verbindet. Den beiden Unternehmen nahestehende Quellen sagten, dass von Aero-Express erwartet wird, dass sie von einer Option, mehr Züge zu kaufen, zurücktreten werden.
Ein 2-Mrd.-Dollar-Projekt für eine neue U-Bahn-Linie in der Hauptstadt ist ebenfalls auf Eis gelegt. Die Bauarbeiten sollten nächstes Jahr beginnen, aber die chinesischen Partner des Projekts, einschließlich der staatseigenen China Railway Construction Corporation forderten eine Neuverhandlung, weil die Rubel-Abwertung Importe erheblich teurer machten.
Andere Auslandsfirmen bestätigten, dass der schwache Rubel zu einer großen Herausforderung geworden sei. Bilfinger, die deutsche Maschinenbaugruppe teilte mit, solange Dienstleistungen innerhalb Russlands eingeschränkt seien, leide ihr Geschäft beim Bau von Neuanlagen. „Am deutlichsten spüren wir es in unserer technischen Abteilung, weil es keine neuen ausländischen Projekte mit Direktinvestitionen mehr gibt“, sagt Joerg Syrzisko, Geschäftsführer von Bilfinger in Russland.
Jens Boehlmann, stellvertretender Leiter der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Russland sagt, dass in der Kombination von stagnierender Wirtschaft, Sanktionen und Währungsschwäche „die Auswirkungen der Rubel-Abwertung das Schlimmste ist“.
Reisebranche in Not
Nirgendwo liegen die Dinge so katastrophal wie in der Tourismusbranche. Da die Haushalte damit begonnen haben, ihre Gürtel enger zu schnallen, und der schwächere Rubel die Kosten für Auslandsreisen nach oben getrieben hat, sind die fünf größten Reiseveranstalter des Landes, die für 60 Prozent des Pauschalreisemarktes stehen, in Konkurs gegangen.
Um die Insolvenzen der Reiseveranstalter abzudecken, musste Aeroflot Rücklagen von 79 Mio. Dollar bilden, was ihr Halbjahreseinkommen verschlungen hat. Und obwohl die Fluglinie nahezu die Hälfte ihrer Einnahmen in Fremdwährung erhält, sagen Analysten, dass sie von der Rubel-Abwertung nicht auf die gleiche Weise profitiert wie die Exporteure. „Ohne die Tarife zu kürzen würden sie mit halbvollen Maschinen fliegen“, sagt Elena Sachnowa, eine Analystin von VTB Capital
Für die Energie und Rohstoffbranche, dem Rückgrat von Russlands Wirtschaft, ist der fallende Rubel ein zweischneidiges Schwert. Es trifft alle aber es hat die Gewinne von einigen der größten Unternehmen Russlands vernichtet, indem diese gezwungen waren, ihre auf Dollar basierende Schulden aufzuwerten. Rosneft, die staatliche Ölgruppe, berichtete von einem 99-prozentigen Rückgang ihres Nettogewinns im dritten Quartal, ausgelöst durch einem Buchverlust in Höhe von 95 Mrd. Rubel bei ihrer Devisenposition.
Trotz des Buchverlustes hat der Verfall des Rubels dem Rohstoffsektor eine willkommene Erleichterung gebracht, da die Einkünfte aus Exporten hauptsächlich aus Dollars bestehen, während die Kosten weitgehend in Rubel anfallen. Zum Beispiel berichtete Rusal, der weltweit größte Aluminiumproduzent, vom ersten Barmittelzufluss seit mehr als zwei Jahren.
Bankensektor ist vom Ausland abgeschnitten
Die Rubel-Schwäche hat einen langen Weg zurückgelegt, um die ebenfalls sinkenden Ölpreise der letzten Monate auszugleichen, wobei sie als Sicherheitsventil wirkte, das dabei half, ein Stück des Unternehmenssektors zu schützen sowie das russische Budget vor einem plötzlichen Rückgang der Einnahmen.
„Zusammenhänge zwischen den Ölpreisen und dem Rubelkurs und der sich daraus ergebenden operativen ‚Absicherung’ des Sektors, ist im internationalen Vergleich der größte Vorteil der russischen Öl- und Gasunternehmen“, sagt Ilkin Karimli von der Credit Suisse.
Eine der größten langfristigen Sorgen russischer Unternehmen ist, dass das Abgleiten des Rubels den Druck verschärft, Schulden in Auslandswährung zu refinanzieren, da westliche Sanktionen den Zugang zu frischen Dollars und Eurofonds blockiert haben. Gemäß Zentralbankstatistiken hatten russische Banken und Unternehmen im September 614 Mrd. Dollar Auslandsschulden.
Die Dinge sind besonders kompliziert im Bankensektor, der weitgehend von ausländischen Finanzierungen abgeschnitten ist und über wenig Deviseneinnahmen verfügt. Die Ratingagentur Standard & Poors erwartet, dass obwohl der Sektor genügend Mittel besitzt, um bestehende Fremdwährungsschulden zu bedienen, steigende Finanzierungs- und Kreditkosten die Gewinne belasten werden und während des kommenden Jahres und darüber hinaus eine angemessene Kapitalausstattung unterminieren.
Die staatseigene VTB, Russlands zweitgrößter Kreditgeber, berichtete von einem 90-prozentigen Rückgang des Nettogewinns im dritten Quartal, weil sie für die Ukraine-Krise und wegen der sich verschlechternden Schuldenqualität zu Hause Rückstellungen erhöhen mussten.
Die Suche nach knappen Devisenmitteln treibt Russlands Kreditgeber dazu, um Dollarrücklagen der Unternehmen zu konkurrieren. „Sie bieten Raten zwischen 4,5 und sechs Prozent“, sagt ein Banker in Moskau. Dies steht im Vergleich zu einem Prozent Zinsen, die Auslandsbanken russischen Unternehmenskunden für Dollareinlagen bieten.
Andere Sektoren sind auch anfällig. Gemäß Renaissance Capital dürften VimpelCom und Rostelecom, die Telefonbetreiber, bald externe Mittel benötigen, um bestehende Kredite zurückzuzahlen. Autohersteller könnten sich ähnlichen Problemen gegenübersehen. Und Sistema, das in London notierte Konglomerat, das von dem kürzlich inhaftierten Oligarchen Wladimir Jewtuschenkow geführt wird, „dürfte gezwungen sein, sich für die Rückzahlung Geld zu leihen“, meint Renaissance.
Bisher versucht Moskau, derartige Schwierigkeiten außerhalb des Blickfelds zu halten. Auf einer Webseite, die kürzlich von der staatlichen Nachrichtenagentur Itar-Tass eingerichtet wurde, werden Herrn Putins Leistungen beschrieben, und die russische Wirtschaft in den 1990ern in schwarz und weiß gezeichnet, um nach Putins Ankunft in herrliche Farben zu wechseln.
In Anlehnung daran, sagt Wjatscheslaw Wolodin der stellvertretende Stabschef des Präsidenten, letzten Monat, dass die Russen verstünden, dass es „ohne Putin kein Russland gibt“.
Aber einige unter den Kritikern des Präsidenten denken, dass die wirtschaftliche Realität für die Russen wichtiger werden könnte als der Stolz, den Putin ihnen einflößt. Unter den vielen Witzen über Buchweizen, die die Runde machen, gibt es einen, der aus Wolodins Formel ein Wortspiel macht: „Es gibt kein Russland ohne Buchweizen.“
Verbraucher greifen zu Importwaren
Irina Bychkova, eine Universitätsstudentin hat wenig Geld übrig aber spendierte sich letztes Wochenende ein iPhone. "Ich hatte vorgehabt, mir nächstes Jahr während eines Besuches in München eines zu kaufen, aber jetzt ist es hier sogar billiger", sagte sie.
Der Fall des Rubels und die steigende Inflation hat die Moskauer veranlasst, ihr Geld für dauerhafte Konsumgüter und Immobilien zu verschwenden.
Viele ausländische Anbieter haben, um dem jüngsten starken Rückgang der Währung gerecht zu werden, ihre Preise in Russland noch nicht erhöht, was zum ersten Mal seit Jahren dazu führte, dass Spitzenprodukte und Luxusgüter zuhause erschwinglicher als in Europe sind.
Russen, die oft nach Europa reisen, tendieren dazu, Großeinkäufe lieber dort zu tätigen als in dem überpreisten Moskau. Aber Fräulein Bychkova zahlte 36.990 Rubel oder ungefähr 648 Euro für ihr 64GB iPhone 6 - mehr als 100 Euro unter dem Einzelhandelspreis in Deutschland.
Ausländische Autohersteller spüren die Auswirkungen ebenfalls. Während die Neuwagenverkäufe allgemein zurückgehen, verlangsamte sich der Rückgang im Oktober, so die Vereinigung europäischer Unternehmen in Russland.
Jörg Schreiber, Vorsitzender des Ausschusses der AEB Automobilhersteller sagt, ein wichtiger Grund für die Verbesserung sei „der starke Verfall des Rubels, der die kurzfristige Nachfrage nach importierten Modellen erhöht“.
Richard Leopold, Leiter der Luxusmarke Bentley Russland schätzt, dass sich der Preisunterschied für Bentley Autos in Europa und in Russland von 25 Prozent vor sechs Monaten auf unter zehn Prozent angenähert hat. „Deshalb sehen wir im Moment weniger grenzüberschreitenden Handel.“
Aber die Erleichterung wird nur vorübergehend sein. Obwohl die Einzelhandelsumsätze im letzten Monat um 2,1 Prozent gestiegen sind, glauben Experten, dass sich dies abschwächen wird, da die Inflation und die Abwertung des Rubels die verfügbaren Einkommen auffressen werden.
„Seit dem letzten Monat haben wir das Gefühl, dass es den Verbrauchern nicht mehr gut geht“, sagt der russische Chef eines europäischen Online-Einzelhändlers. „Wir haben damit begonnen, die Preise zu erhöhen und die Menschen versuchen, bei den Marken und der Qualität zu bleiben, die sie bevorzugen, aber kaufen weniger.“
Mitarbeit Jack Farchy
Copyright The Financial Times Limited 2014