Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute. Von 2000 bis 2009 war er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Von 2005 bis zu seinem Ausscheiden war Rürup Vorsitzender dieser sogenannten Wirtschaftsweisen. Der Ökonom hat sich besonders als Rentenexperte einen Namen gemacht.
Capital: Herr Rürup, Sie sind Rentenexperte. Derzeit steht bei den geforderten Reformen in Griechenland unter anderem auch das dortige Pensionssystem im Fokus. Wie bewerten Sie das griechische Rentensystem?
Bert Rürup: Das größte Problem des griechischen Rentensystems ist die mangelhafte finanzwirtschaftliche Nachhaltigkeit. Als problematisch erweisen sich auch die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die extreme Frühverrentungen erlauben.
So können Mütter, sofern sie 25 Beitragsjahre nachweisen können und ihr Kind noch nicht über 18 ist, bereits im Alter von 50 Jahren in Rente gehen – und bis vor kurzem waren dazu sogar 15 Berufsjahre und ein erreichtes Lebensalter von 40 Jahren ausreichend. Richtig ist aber auch, dass derzeit nicht selten über das Rentensystem die Einkommensausfälle als Folge der Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit jüngerer Familienangehöriger abgefedert werden. Daraus folgt allerdings – mittelfristig – nicht, auf eine nachhaltigkeitsorientierte Reform des Alterssicherungssystems zu verzichten, wenn eine funktionsfähige Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe eingerichtet wurde.
Sie waren maßgeblich an der Agenda 2010 in Deutschland beteiligt. Was würden Sie Griechenland heute für eine Agenda verschreiben?
Das Hauptproblem Griechenlands ist die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Da eine Abwertung mangels eigener Währung nicht möglich ist, kommt man um eine weitere reale Abwertung in Form von Preis- und Lohnsenkungen nicht herum. Damit ist eine Senkung des Lebensstandards verbunden – bis zu einem Niveau, das die Griechen selbst zu erwirtschaften in der Lage sind. Darüber hinaus bedarf es vor allem einer radikalen Verwaltungsreform und einer Verkleinerung des Personalbestandes der zerklüfteten und damit zu reorganisierenden öffentlichen Verwaltungsstrukturen.
Die Rentenreform steht zwar auch auf der Agenda, aber hier sollte berücksichtigt werden, dass die Rente zur Zeit praktisch das Fehlen eines Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe für jüngere Familienangehörige ersetzt. Hier zu kürzen, ohne an anderer Stelle eine soziale Sicherung aufzubauen, ist mit unverantwortlichen sozialen Risiken und Nebenwirkungen verbunden.
Eine Frage der Perspektive
Selbst mit dem neuen Deal für Griechenland, macht es überhaupt Sinn dieses Land weiter in der Eurozone zu halten, bei all den Unterschieden bei Wettbewerbsfähigkeit und Verwaltungseffizienz?
Jeder Wissenschaftler, sei er Ökonom, Soziologe, Historiker, Militärgeograf oder Physiker hat eine Brille auf der Nase und damit vor seinen Augen, sein Paradigma, seine Theorie. Diese Brille dient allerdings nicht dazu, die Realität exakt wahrzunehmen, sondern dazu das besonders scharf zu sehen, worauf sich sein spezifisches Erkenntnisinteresse richtet. Ein Historiker kann deshalb bei einer Analyse der Probleme Griechenlands zu einer anderen Antwort als ein Finanzwissenschaftler kommen. Und ein dem keynesianischen Paradigma verpflichteter Ökonom wird diese Frage anders beantworten als ein Angebotstheoretiker.
Aus der neoklassischen Sicht meines Kollegen Hans-Werner Sinn ist es besser, wenn Griechenland aus der Eurozone ausscheiden würde. Aber sicher ist dies keineswegs. Denn es ist höchst ungewiss, ob die Vorteile aus den Abwertungsmöglichkeiten der neuen Währung die Nachteile überwiegen, die mit einem Austritt verbunden sind. Zu diesen Nachteilen zählen der für eine geraume Zeit versperrte Zugang zum Kapitalmarkt nach einem unvermeidlichen Schuldenschnitt der untragbar gewordenen Euro-Schulden und deutlich höhere Preise für Importgüter. Zwar erhoffen sich die Befürworter eines Grexit von steigenden Importpreisen Druck zu vermehrter Binnenproduktion. Doch dürften die selbst produzierten Ersatzgüter mangels eigener Ressourcen oder Fähigkeiten teurer werden als die unter dem Euro-Regime bezahlten Importpreise.
Aus politischer Sicht und im Hinblick auf die europäische Idee macht es dagegen Sinn, das Land in der Eurozone zu halten. Denn die zweifellos bestehenden Defizite Griechenlands, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und die völlig ineffiziente Verwaltung, sind auch bei einem Verbleib in der Eurogemeinschaft zu überwinden. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Modernisierung der Verwaltung, eine Liberalisierung der Märkte und insbesondere Reformen am Arbeitsmarkt sogar eher als Mitglied der Eurogemeinschaft durchgesetzt werden können.
Warum haben andere Länder wie Portugal, Spanien, Irland oder Island erfolgreiche Reformen hinbekommen, Griechenland aber nicht?
Island ist kein Euromitglied und auch sonst ein Sonderfall, den man nicht in diesen Vergleich einbeziehen sollte. Das Land hat eine eigene Währung, und der Druck zu Reformen war größer, weil die Alternative einer Bitte um Transferhilfen nicht im Raume stand.
In den drei anderen Ländern der Eurozone war der Reformwille deutlich ausgeprägter als in Griechenland, und die Umsetzung dieser Maßnahmen verlief energischer. In Portugal, Spanien und Irland, die auch von den Turbulenzen an den europäischen Finanzmärkten der Jahre 2010 bis 2012 betroffen waren, war die wirtschaftliche Substanz besser als in Griechenland, und nicht zuletzt verfügen diese Länder über einen funktionierenden Verwaltungsapparat und einen reformfähigen und reformwilligen Politikapparat. Insofern waren die erforderlichen Anpassungen dort besser und leichter umzusetzen.
Die Troika hat Fehler gemacht
Die griechische Regierung gibt vor allem Brüssel und Berlin die Schuld an der Misere. Hat die Troika wirklich gravierende Fehler gemacht in den vergangenen fünf Jahren Krisenmanagement?
Als erstes sollte man unterscheiden zwischen der Troika als Kontrollorgan und der Troika als Planungsorgan. Die Troika hätte im Rahmen ihrer Kontrollfunktion mehr darauf achten können, dass die Reformen plangemäß umgesetzt werden. Dies war nicht immer der Fall. Zudem hätte dieses Gremium mehr Weitsicht beweisen können und auf eine Programmanpassung drängen sollen, als sich wirtschaftliche und soziale Probleme zeigten.
Allerdings war aber auch der Plan an sich – zumindest im Nachhinein nicht optimal. Hier hat die Troika gravierendere Fehler gemacht, Fehler, die aber zunächst nicht absehbar waren. Aber im Vollzug und Verlauf zeigte sich, dass das Sparen zu hoch gewichtet war. Zudem wurden Reformwilligkeit und Reformfähigkeit der griechischen Politik überschätzt. Die Annahmen zu den Zielwerten waren zu optimistisch und der Zeitplan zu ambitioniert.
Gab es eine Alternative zur harten Konsolidierung? Möglicherweise indem man mehr Rücksicht auf Wachstum genommen hätte?
Meines Erachtens gab und gibt es keine Alternative zur Konsolidierung. Ohne die Hilfskredite wäre es zu einer unmittelbaren und vollständigen Konsolidierung in Richtung eines von den äußeren Verhältnissen erzwungenen ausgeglichenen Primärhaushalts gekommen, was zweifellos deutlich gravierendere gesamtwirtschaftliche Konsequenzen gehabt hätte. Nun wurde aber der Hilfsmechanismus in Gang gesetzt, und wie hart, sprich wie schnell nun zu konsolidieren ist, kann durchaus unterschiedlich gesehen werden. Letztlich muss hierfür eine pragmatische Verhandlungslösung gefunden werden. Rückblickend waren meines Erachtens die Konsolidierungsvorgaben zu hart beziehungsweise zu dominierend. Man hätte mehr Rücksicht auf Wachstum und Beschäftigung nehmen sollen.
Wie fällt Ihre Bilanz von Frau Merkels Euro-Krisenmanagement aus?
Politik hat immer zwei Dimensionen. Im Englischen spricht man von „policy“, wenn es um die theoriegeleitete Umsetzung von Programmen geht. Jeder Maßnahme muss allerdings die Organisation und der Erhalt politischer Mehrheiten vorausgehen. Dafür steht „politics“. Die Herausforderung für Angela Merkel bestand und besteht deshalb darin, dass einerseits das Krisenmanagement der Idee eines gemeinsamen Europas entspricht, aber gleichzeitig innenpolitisch akzeptiert wird. Zwischen beiden Maximen musste und muss sie eine Art „workable compromise“ finden. Und die Schwierigkeiten, in die Sigmar Gabriel zuletzt geraten ist, resultieren genau aus diesem Spagat zwischen „policy“ und „politcs“.
Sicher hätte die Bundeskanzlerin europapolitisch „weicher“ agieren können. Aber genauso gut, wäre aus innenpolitischer beziehungsweise parteipolitischer Sicht mehr Härte verständlich gewesen. Da Angela Merkels Krisenmanagement aber immer davon geprägt war und ist, einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone zu vermeiden, war ihre bisherige Strategie ein durchaus gelungener Kompromiss zwischen ihrer Verantwortung für ein gemeinsames Europa und der innenpolitischen Zustimmung zu ihrem Vorgehen.
Laufzeitverlängerung ist de facto ein Schuldenschnitt
Stimmt der Vorwurf, dass vor allem die europäischen (darunter auch deutsche) Banken von dem Geld gerettet wurden, das bislang als Rettungspaket nach Griechenland geflossen ist?
Es ist richtig, dass ein Großteil der durch die Rettungspakete geflossenen Gelder für den Schuldendienst des griechischen Staates verwendet wurde und damit an die Gläubigerbanken ging und dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil direkt in den griechischen Staatshaushalt geflossen ist. Insofern haben die ausländischen Gläubiger und hier insbesondere die Banken aus Deutschland, Frankreich und den USA an diesen Hilfen partizipiert, auch wenn sie 2012 einen merklichen Schuldenschnitt hingenommen haben. Immerhin konnte durch die Rückzahlung von Krediten die Zinsbelastung des griechischen Staatshaushaltes deutlich reduziert werden. Weiterhin dienten die Rettungsgelder einer Rekapitalisierung der griechischen Banken. Dies darf man nicht gering schätzen. Denn ein funktionierendes Banken- und Finanzsystem ist für eine Volkswirtschaft unerlässlich – wie es nicht zuletzt die aktuellen Kapitalverkehrskontrollen und die Schließung der Banken zeigen.
Ist eine Umschuldung überhaupt noch unumgänglich?
Ein formaler Schuldenschnitt ist innerhalb der Währungsunion aufgrund der No-Bailout-Klausel nicht möglich. Im Abschlussstatement des Euro-Gipfels wird allerdings explizit die Möglichkeit einer Laufzeitverlängerung und Zinssenkung der an Griechenland gewährten Kredite aufgegriffen, wenn die griechische Regierung die geforderten Reformen umsetzt. Das ist ein faktischer Schuldenschnitt.
Was hat der Haircut von 2012 die privaten Gläubiger wirklich gekostet?
Nominal haben die privaten Gläubiger auf 53,5 Prozent ihrer Forderungen verzichtet, mit der Folge, dass derzeit der Anteil der von privaten Gläubigern, die sich vornehmlich aus griechischen Banken zusammensetzen, gehaltenen Kreditforderungen nur noch bei etwa 13 Prozent der Gesamtverschuldung des Staates liegt.