Die Hand umschließt den pinken Griff. Doch sie droht sich zu lösen. In 12 Metern Höhe klemmt Edward Martens (42) unter der überhängenden Kletterhallendecke. Die Schwerkraft kennt nur eine Richtung: abwärts. Jeder Muskel von Martens Körper ist angespannt. Ein leichtes Zittern im Bein. Jetzt muss es schnell gehen. Kurz taucht er die schweißfeuchte Hand in den Beutel mit Magnesia, der an seinem Gurt baumelt. Das Drumherum spielt keine Rolle mehr, das Stimmengewirr in der Kletterhalle ist nur noch dumpfe Begleitsinfonie. Martens ist voll konzentriert auf den Moment. Endlich findet er halt an dem Griff. Noch zwei Züge und das Ende der Route ist erreicht. Martens lächelt. Geschafft.
Zwei Stunden zuvor bestand die Welt des Immobilienmanagers und Vorstandsmitglieds noch aus Calls, Konferenzen, Multitasking, Stress. Er trug Anzug und glänzende Lederschuhe. „Früher waren diese Businessmenschen das Feindbild der echten Kletterfreaks“, sagt Bastian von Borstel (32), Betriebsleiter des DAV Kletterzentrums Hamburg, an dessen Wänden sich Edward Martens austobt, schmunzelnd. „Heute erleben wir es immer öfter, dass Besucher direkt nach dem Job zu uns kommen und Kostüm und Anzug gegen Kletterschuhe tauschen.“
"Feierabendsport und Fitnessstudioersatz"
Das Publikum in den Hallen hat sich also gewandelt. Einst trafen sich hier die Kletterer, die für ihre alpinen Projekte in den Bergen trainierten, sich über den Winter fit halten wollten. „Nun zieht es immer mehr Menschen, die mit den Bergen gar nichts am Hut haben, in die Hallen. Viele von ihnen haben gar nicht das Ziel, jemals draußen in der Natur in den Wänden zu hängen. Klettern ist längst zum Feierabendsport und Fitnessstudioersatz geworden“, ist von Borstel überzeugt. Die Bewegung in der Vertikalen trifft offenbar den Zeitgeist: Klettern boomt! Über 400 Kletter- und Boulderhallen gibt es bereits in Deutschland. Tendenz weiter steigend.
Auch Edward Martens haben die Vorzüge des Sports überzeugt. „Im Vordergrund steht für mich, fit zu bleiben. Außerdem kann ich den Sport fast überall ausüben. Auf Geschäftsreisen gehe ich zum Beispiel mit Bekannten in unterschiedlichen Städten schnell nach dem Termin noch an die Wand.“ Bastian von Borstel nennt weitere Vorteile: „Man trifft in den Hallen viele Gleichgesinnte und kann zusammen Spaß haben, auch wenn man sich auf unterschiedlichem Leistungsniveau bewegt.“ Beim Bouldern, dem Klettern ohne Seil in Absprunghöhe, ist der Aufwand besonders gering und kostengünstig: ein Paar Kletterschuhe, mehr Equipment braucht es nicht. Diese Form des Kletterns lässt sich sogar alleine, ohne Seilpartner, ausüben. „Eine Runde Bouldern in der Mittagspause oder auf dem Weg nach Hause, das bekomme ich unkompliziert hin“, sagt Edward Martens. „Es passt irgendwie gut in unsere Zeit, denn die ist immer knapp. Zumal als Familienvater mit vier Kindern.“
"Der Spaßfaktor ist hoch"
Die Betreiber der Kletterhallen haben sich auf die neue Klientel eingestellt. Statt dunkler und muffiger Trainingsorte entstehen stylishe Bespaßungstempel in urbanem Umfeld. Mit gutem Design und durchdachter CI, mit Saunabereichen, Crossfit-Arealen und Yoga-Stunden. Und mit Cafés, von denen aus man den athletischen Körpern auf ihrem Weg nach oben zusehen kann. Das Schauen wird viel und gerne praktiziert. Kein Wunder, sind die Bewegungen doch schön anzusehen und die Körper von Kletterern meist gut definiert. „Bouldern und Klettern sorgen nicht zuletzt für spektakuläre Bilder. Ein wichtiges Detail der Neuzeit“, sagt Martin Bernhardt, Geschäftsführer der Boulderhalle „Greifhaus“ in Braunschweig.
„Möglicherweise spielt auch ein narzisstischer Faktor beim Klettern eine Rolle“, glaubt auch Prof. Dr. Volker Schöffl (51). Für den Sportorthopäden, Chirurgen und Mannschaftsarzt der Deutschen Nationalmannschaft Klettern, haben jedoch andere Aspekte den Kletter-Boom ausgelöst. „Die Aufgabenstellung versteht jeder und anders als beim Fußball, wo es vielleicht Monate dauert, bis ich mal ein Tor schieße, hat man beim Klettern direkt und schnell Erfolgserlebnisse. Zudem ist der Spaßfaktor hoch.“
Anders als Bilder von abenteuerlichen Stürzen, von hohen Wänden und grotesk verrenkten Körpern in den Routen vermuten lassen, ist das Verletzungsrisiko beim Kraxeln relativ gering. „Die Datenlage ist eindeutig. Beim Klettern kommen 0,02 bis 2 Unfälle auf 1000 Sportstunden. Beim Handball oder Fußball sind es dagegen 30“, erläutert Schöffl. Bei der Bewegung in der Vertikalen ist unser gesamter Körper gefordert. „Fast alle Muskeln werden zugleich angesprochen“, so der Mediziner. So verwundert es wenig, das Klettern immer öfter auch als Therapie in der Orthopädie, Neurologie und Geriatrie eingesetzt wird. Aber auch die Psychotherapie setzt auf die Wirkung des Steigens. „Klettern wirkt sich extrem positiv auf unsere Psyche aus“, sagt Schöffl. „Es geht um Verantwortung, um das Aufbauen einer Partnerschaft, um das Vertrauen in den Seilpartner und in meine eigenen Fähigkeiten. Zudem findet eine Fokussierung auf den Moment statt.“ Gerade bei Essstörungen oder Aggressionen kann Klettern Linderung bringen.
Eine Grundsportlichkeit braucht es beim Klettern nicht, selbst adipöse Menschen haben in der Wand schnell Erfolgserlebnisse, können sich scheinbar schwerelos bewegen. „Nur der Faktor Höhe darf nicht unterschätzt werden“, warnt Schöffl. „In 12 Metern zu hängen, fühlt sich oben ganz anders an, als es von unten aussieht.“ Abgesehen für Patienten mit Osteoporose oder künstlichen Gelenken gilt dann aber tatsächlich: Klettern kann jeder. Und das wollen immer mehr Menschen und überall. So berichtet Schöffl von einem befreundeten Manager, der bei seinen Auftragsverhandlungen immer gleich einen Sicherungspartner fürs Klettern einfordert. „Damit er auch bei Projekten in Sydney oder London nach dem Job den Anzug gegen Kletterschuhe eintauschen kann.“