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Kolumne Durchgeflutscht – worin der eigentliche Anschlag auf die Demokratie besteht

Lars Vollmer
Lars Vollmer
© André Bakker
FDP-Kandidat Kemmerich hat sich vom thüringischen Landtag zum Ministerpräsidenten wählen lassen – auch mit den Stimmen der AfD. War das zutiefst demokratisch oder undemokratisch? Lars Vollmer verrät, was ihn daran wirklich beunruhigt

5. Februar 2020, 13.27 Uhr. Ich stehe in Köln und lese die Eilmeldung, die mein Handy gerade anzeigt. Die Sonne scheint auf mein unbedecktes Haupt, dennoch ist mir etwas kalt am Kopf. Warum vergesse ich nur immer wieder, die Mütze einzupacken, wenn ich aus meiner Wahlheimat Barcelona ins winterliche Deutschland aufbreche? Nur um angesichts dieser Eilmeldung kühlen Kopf zu bewahren? Das wäre mir doch auch mit Mütze gelungen.

Ja, der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich ist vom thüringischen Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Mit den Stimmen der CDU und der AfD. Nach einer kurzen Schrecksekunde bricht der Sturm der Entrüstung von nahezu allen beteiligten und unbeteiligten Personen los. Und das Stichwort „Anschlag auf die Demokratie“ lässt nicht lange auf sich warten.

Sie mögen zu dem Vorfall in Thüringen stehen, wie Sie möchten – und ich erzähle Ihnen gerne ein anderes Mal, was ich davon halte. Heute geht es mir darum, was ich für den eigentlichen Anschlag auf die Demokratie halte. Und der hat erst nach dieser Wahl stattgefunden. Mal wieder.

Damals in Barcelona

Ich habe nachgesehen: Es ist ziemlich exakt zwei Jahre her, dass ich einen Essay geschrieben haben mit dem Titel „ Weniger Demokratie wagen “. Nach seiner Veröffentlichung haben mir manche vorgeworfen, ich wolle keine Demokratie mehr. Ich fürchte, diese Leser haben meinen Text missverstanden oder aber – und das vermute ich eher – nicht über die Überschrift hinaus gelesen. Denn das Gegenteil ist der Fall: Mir liegt die Demokratie sehr am Herzen und ich sehe sie in großer Gefahr. Damals wie heute.

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Vor zwei Jahren war mir diese Gefahr in Katalonien besonders klar geworden, während dort der Konflikt zwischen Separatisten und Einheitsbefürwortern hohe Wellen schlug. Und das gleiche Phänomen habe ich in diesen bewegten Tagen nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen beobachtet. Nur scheint es sich noch zu verschärfen. Und das macht mich ernsthaft besorgt. Denn schauen Sie sich die Reaktionen nach der Wahl an …

Der weite Mantel

Die einen reklamieren beispielsweise, dass Thomas Kemmerich zutiefst undemokratisch gehandelt habe, indem er die Wahl angenommen habe. Schließlich habe er die Abstimmung nur mit Hilfe undemokratischer Kräfte gewonnen. Außerdem könne er als Vorsitzender der kleinsten Fraktion im Landtag doch keineswegs ein demokratisch legitimierter Ministerpräsident sein. Die anderen konstatieren, dass es ein zutiefst demokratischer Akt war, dass die geheime Wahl so stattgefunden hat, wie sie stattgefunden hat.

Von Annegret Kramp-Karrenbauer war zeitweise zu hören, dass im Sinne der Demokratie die Wahl zurückgenommen und Neuwahlen angestrebt werden müssten. Wieder andere echauffieren sich, dass sie komplett undemokratisch handelt, wenn sie von Berlin aus ansagt, wie die Politiker in Thüringen sich zu entscheiden haben.

Merken Sie was? Egal, welchen Standpunkt jemand vertritt: Stets berufen sie sich auf „die Demokratie“. In diesen Mantel können sie genau das hüllen, was sie unter dem Begriff verstehen. Und weil Demokratie gemeinhin etwas „Gutes“ ist, stellen sie sich damit mir-nichts-dir-nichts selbst auf die Seite der Guten. Während alle, die inhaltlich eine andere Meinung vertreten, automatisch auf die undemokratische und damit verwerfliche Seite gestellt werden. Der Begriff „Demokratie“, als verbale Universalwaffe, wird nur noch mit dieser ideologischen Aufladung verwendet, als immer leerer werdende Hülle für alles, was dem Sprecher gerade opportun ist.

Das war und ist in Katalonien nicht anders: Separatisten führen die Demokratie ganz genauso als Argument ins Feld wie die Einheitsbefürworter. Genau darin liegt der Sprengstoff: Wir degradieren den Begriff „Demokratie“ auf breiter Front zum Flutschbegriff.

Alles so schön flutschig hier

Flutschbegriffe sind Wörter, die wie eine Art Gleitcreme in der Kommunikation funktionieren. Sie sind durch anhaltende Verwendung so allgemein und vielsagend geworden, dass sie immer irgendwie passen. Jeder kann sich sofort darauf beziehen, ohne seine Interpretation des Begriffs mit der des Gesprächspartners abzugleichen.

So können sich zwei Leute im totalen Dissens befinden. Solange sie Flutschbegriffe dafür verwenden, können sie stundenlang miteinander reden. Weiter kommen sie dadurch natürlich nicht, aber das fällt dabei gar nicht so sehr auf.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie Flutschwörter auch aus Ihrem Unternehmensumfeld kennen.

Flurschäden

„Strategie“ ist so ein Wort. Machen Sie mal den Feldversuch: Setzen Sie sich in der Kantine zu Kollegen aus einer völlig anderen Abteilung. Sie werden sehen, dass Sie sich – wenn Sie nur fleißig den Begriff „Strategie“ verwenden – auch als völlig Unbeteiligter munter in die Diskussion einklinken können. Und sich köstlich amüsieren, wenn die Konsequenzen nicht so traurig wären.

Denn Flutschbegriffe hinterlassen in Unternehmen einen erheblichen Flurschaden. Wie viel Zeit allein verschwendet wird, wenn die Beteiligten Stunde um Stunde aneinander vorbeireden. Und es noch nicht einmal merken. Geschweige denn zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Diesen Flurschaden hinterlassen Flutschbegriffe auch im Kontext der Gesellschaft. Und dort ist er noch deutlich gravierender.

Was ist denn das?

Denn wenn Demokratie ein Wert ist, auf den sich unsere Gesellschaft verlassen können muss – und genau das ist meine bescheidene Meinung –, dann gehört dazu, dass wir den Begriff mit der Zeit weiterentwickeln. Weiterentwickeln können wir ihn nur, wenn wir über Demokratie sprechen können. Doch Flutschbegriffe sind nicht besprechbar!

Was meine ich mit besprechbar? Stellen Sie sich vor, Sie kommen in eine Gruppe und sagen: „Wir müssen mal über Ambidextrie sprechen.“ Ziemlich sicher werden viele Sie fragen: „Ambidextrie – was soll das sein?“ Diese Frage gibt Ihnen die Chance, das, worüber Sie reden wollen, besprechbar zu machen: Sie stellen das Konzept vor, so dass alle ein weitgehend einheitliches Verständnis davon bekommen. Anschließend können Sie gemeinsam debattieren und das Konzept weiterentwickeln, übertragen oder auch verwerfen.

So, und nun stellen Sie sich vor, Sie gehen in die Gruppe und sagen: „Wir müssen mal über Demokratie sprechen.“ Ich prophezeie Ihnen, dass kein einziger Teilnehmer Sie fragen wird: „Was ist denn das?“ Jeder hat eine Vorstellung, was damit gemeint ist – selbst wenn die Vorstellung jedes einzelnen Teilnehmers komplett unterschiedlich ist.

Im Zweifel reden alle aneinander vorbei und jeder sieht sich selbst dabei auf der Seite des Guten. Und der Kern der Demokratie ist nicht mehr besprechbar. Das halte ich für hochgradig kritisch, denn noch nie ist die Verflutschung so deutlich geworden wie jetzt in den Tagen von Thüringen. Wenn es ein Crescendo in Sachen Anschlag auf die Demokratie gibt, dann erleben wir genau das.

Wäre ich ein braver Ministerialbeamter, würde mich ein bestimmtes Gedankenexperiment gerade sehr reizen …

Ideenwettbewerb

Wie wäre es, wenn wir eine Demokratie-Nutzungssteuer einführen? Jeder, der den Begriff öffentlich nutzt, wird mit einer Abgabe belegt. Deren Erlös geht – natürlich nach Abzug eines kleinen Anteils an systemischen, staatserhaltenden Verwaltungsausgaben – in ein buntes Allerlei an demokratiefördernden Projekten. Das reduziert den Gebrauch des Unerwünschten, fördert das Gewünschte und ziert ungemein. Ganz gemäß zum Beispiel des Vorbildes Steuer auf fossile Brennstoffe. Aber Sie kennen mich ja: Nichts liegt mir ferner als diese Option auch nur anzudenken.

Ich hoffe, es kommt mir angesichts meines kühlen Kopfes noch eine bessere Idee. Oder ich denke beim nächsten Mal doch daran, meine Mütze mitzunehmen und überlasse es Ihnen, eine gute Idee dazu zu haben, wie wir unsere Demokratie vor der Verflutschung retten können …

Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem Buch „ Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden “ stellt er den Krisen in unserem Land Ideen von Selbstorganisation und Eigenverantwortung gegenüber.

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