Anfang Mai forderte der Yale-Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller eine „Revolution in der Wirtschaftswissenschaft“: Wir sollten in der Ökonomie viel mehr Rücksicht auf die Rolle von Narrativen und Geschichten nehmen. Nur wenn wir die Narrative mitberücksichtigen, so Shiller auch in seinem Buch Narrative Economics , können wir „die realen Mechanismen des wirtschaftlichen Wandels“ beschreiben, und „ökonomisch bessere Vorhersagen treffen“.
Ein allzu standhafter Narrativ wird gerade zumindest teilweise mit den wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie in Deutschland infrage gestellt: dass nämlich die Soziale Marktwirtschaft nur mit einem Staat zu denken sei, der sich nicht als Unternehmer, und schon gar nicht als unternehmerischer Investor versucht. Bisher hielt sich diese Idee geradezu krampfhaft, weder erschüttert durch historische Beispiele - die amerikanische DARPA ist da wirklich nur das i-Tüpfelchen einer Vielzahl von erfolgreichen Vorgängern - noch durch zuletzt grundsätzlich veränderte Rahmenbedingungen, wie die Digitale Transformation.
Interessanterweise wird eben dieses Statut des marktwirtschaftlich-uneingemischten Staates nun gerade infrage gestellt, wenn es um die Rettung der Lufthansa geht. Während der Umgang mit „ systemisch wichtigen Unternehmen “ (so die EU-Kommission) die direkte Einmischung des Staates fordert (und nicht nur das Überweisen der notwendigen Mittel), so stellen wir verwundert fest, dass sich der Narrativ des unvermeidlichen staatlichen Scheiterns als Akteur im Hinblick auf die Start-up-Szene(n) unverändert hält. Denn das Krisenpaket für die deutschen Start-ups, das vor zwei Wochen endlich vorgestellt wurde, geht in die richtige Richtung, lässt aber eine strategische Vision vermissen , und ignoriert noch weitgehend zahlreiche Instrumente, die international durchaus gebräuchlich waren und sind.
Erfreulich ist zunächst, dass die zugesagten 2 Mrd. Euro in zwei verschiedenen Tranchen verteilt werden sollen, und es so aussieht als würde das Geld nicht in Form von Krediten ausgegeben, sondern als Wandelanleihen, die automatisch zu Unternehmensanteilen werden. Der Vorteil: Es wird nicht einfach irgendwann ein Kredit zurückgezahlt, sondern potentiell positive Wertentwicklungen der unterstützten Unternehmen können zu enormen Gewinnen führen, die langfristig anderweitig reinvestiert werden könnten - aber dazu später mehr. Die Risiken des Totalausfalls bleiben dieselben.
Außerdem ist im deutschen Paket – anders als im Covid Future Fund im Vereinigten Königreich – mit seiner zweiten Säule auch an bisher unfinanzierte Start-ups gedacht. Damit wird nicht nur allen – von ganz klein und frisch bis etabliert – Hilfe geboten sondern auch der Reproduktion des hoch-ungleichen Systems entgegengewirkt. Anders gesagt: auch Gründer (oder besser: vor allem Gründerinnen), die bisher keinen einfachen Zugang zu Wagniskapital hatten können durch den Schutzschirm Hilfe erfahren.
Mehr „Entrepreneurial State“
Das Hilfspaket geht allerdings nicht weit genug – und sollte vor allem mittel- bis langfristig viel größer gedacht werden. Insbesondere bedarf es einer Aktualisierung der Narrative, die dieser wirtschaftspolitischen Intervention zugrunde liegen. Wir glauben, dass der Staat durchaus das Potential hat einzugreifen und wirksam zu sein, gerade dort wo neue Unternehmen aufgezogen werden. Die Ökonomin Mariana Mazzucato nennt das den „ Entrepreneurial State “. Sie hat nachgewiesen, dass historisch betrachtet der Staat als indirekter oder eben direkter Investor zahlreiche Märkte aktiv geformt und erschaffen hat, und insbesondere der „ultimative Risikokapitalgeber“ sei, der allein die Mittel habe, um umwälzende Technologien auf den Weg zu bringen. Das iPhone gäbe es nicht ohne Milliarden an staatlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung; das Internet schon gar nicht, GPS, sogar Tesla war anfangs auf Staatsgelder angewiesen. Wir sehen in der aktuellen Situation eine Chance für den Staat die nächste Generation bahnbrechender Innovationen zunächst zu retten, dann aber mittel- und langfristig mitzugestalten und davon als Gesellschaft zu profitieren.
Während die genauen Details und Mechanismen des Hilfspaketes für Start-ups noch nicht abschließend bekannt sind, ist relativ absehbar, dass diese Denkweise, dieser Glaube an den Staat einen schweren Stand gegenüber den althergebrachten Narrativen der Entscheidungsträger haben: Wieso hat der Staat - also wir als Steuerzahler, die die Rettungspakete finanzieren - scheinbar kein Interesse an Mitbestimmungsrechten? Die Soziale Marktwirtschaft sucht gegenwärtig intensiv nach Wegen, den Herausforderungen unserer Zeit unternehmerisch und innovativ zu nähern: Nachhaltigkeit, Inklusion, Gemeinwohl. Hinter diesen Zielen stehen nicht nur wichtige Werte, sondern auch lukrative Märkte, die im Entstehen sind, die allerdings Forschung und Kapital bedürfen.
Der Staat sollte hier daher erneut als „Entrepreneurial State“ auftreten, gerade in Deutschland. Beispiele dafür, dass das funktionieren kann gibt es zur Genüge. Die USA macht das schon lange ( SBIR stehen hinter Apple, DARPA ist für das ‘Internet’ verantwortlich) und gerade wieder vermehrt ( CalPERS hat einen direkten Investmentfond angekündigt). Sogar hierzulande haben wir mit dem System eigentlich Erfahrung, mit HTGF und Coparion , die beide zumindest teilweise staatlich finanziert sind. Dass sich der Staat prinzipiell auch in Deutschland als Investor mit gesellschaftlich-kontextualisierter Gewinnerzielungsabsicht verstehen kann und will, zeigten in den letzten Jahren beispielsweise der „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ oder die Beteiligungsgesellschaft der RAG zur Finanzierung der „laufenden Ewigkeitsaufgaben des deutschen Steinkohlenbergbaus im Nachbergbau-Zeitalter“ - dies allerdings leider nur jenseits der Start-up-Szene.
Langfristig ein neuer Narrativ: Ein staatlicher VC Fond
Anstatt eines kurzfristigen Rettungspakets empfehlen wir daher einen grundsätzlichen Narrativenwechsel. Wir brauchen einen staatlichen Venture-Capital-Fond, der langfristig Entrepreneure fördert und bei der Ausgestaltung neuer Unternehmen und damit der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung mitbestimmt. Nicht zuletzt kann so ein Venture-Capital-Fond auch als Modell mit sozialer Rendite gedacht werden, wie es verschiedentlich vorgeschlagen wurde , und so zugleich zur Abmilderung grundlegender Generationenungerechtigkeiten beitragen. Letzlich wären die unternehmerischen Erfolge der gegenwärtigen und künftigen Start-up-(Aus)Gründungen, gerade in den kapitalintensiven Zukunftstechnologien (Biotech, Space, zweite Quantenrevolution, etc.), dann auch eben jener „shared value“, wie Michael Porter ihn als Grundlage für gelingendes Unternehmertum in der Zukunft vermutet. Solch ein Venture-Capital-Fond wäre in Koordination mit den bisherigen Ansätzen oder auch der neuen Agentur für Sprunginnovationen zu konzipieren.
Der Friedensnobelpreisträger und Ökonom Muhammad Yunus formulierte kürzlich einen ähnlichen, noch weitergehenden Anspruch , der unseren Vorschlag unterstützt: Regierungen müssen garantieren, dass Unternehmen „kein einziger Dollar“ angeboten wird, wenn sie nicht sicher sein können, dass dieses Steuergeld den größtmöglichen sozialen und umweltbezogenen Gewinn für die das Rettungspaket finanzierende Gesamtgesellschaft herbeiführen wird. Das gewaltige Potential dieser Herangehensweise zeigte gerade eine Studie der Smith School of Enterprise and the Environment der University of Oxford auf: Staatliche Konjunkturpakete mit Ansprüchen an Nachhaltigkeit und Klimaschutz seien für die Wirtschaft oftmals hilfreicher, als Rettungspakete die darauf verzichten. Mehr noch: Im Hinblick auf die für uns alle verbindlichen Pariser Klimaziele seien solche Konjunkturpakete zum Umgang mit der Covid-19-Pandemie nicht nur notwendig, sondern womöglich sogar ausreichend!
Genau das wünschen wir uns auch mit diesem Rettungspaket: ein Miteinander des Staates und seinen Akteuren mit Start-ups auf dem Weg zu einer nachhaltigeren, Gemeinwohlorientierten und inklusiven Wirtschaft. Dafür muss es mutiger, umfassender, und unternehmerischer gedacht werden. Das wäre nicht nur eine kluge wirtschaftspolitische Intervention, sondern auch ein geeignetes Narrativ für die kommenden Jahrzehnte.
Johannes Lenhard ist Centre Coordinator am Max Planck - Cambridge Centre for Ethics, Economy and Social Change, und war u.a. Gastwissenschaftler an der Stanford University. Er promovierte zu Obdachlosigkeit in Paris und forscht nun zur Ethics der Venture Capital Industrie. Manouchehr Shamsrizi ist Co-Founder des gamelab.berlin am Excellenscluster der Humboldt-Universität, Co-Founder und ehemaliger CEO des Digital Therapeutics - Start-ups RetroBrain R&D, und war Global Justice Fellow der Yale University sowie Ariane de Rothschild Fellow of Innovative Entrepreneurship der University of Cambridge. Capital wählte ihn 2017 zu Deutschlands Top 40 unter 40.