Kolumne Wall-Street-Crash: der Truthahn-Event

4,6 Prozent verlor der Dow Jones am Montag
4,6 Prozent verlor der Dow Jones am Montag
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Der scharfe Anstieg der Volatilität radiert eine ganze Produktfamilie aus – und zeigt, wie verwundbar die Kapitalmärkte immer noch sind für Kettenreaktionen. Christian Kirchner über den Crash an der Wall Street

Wenn die Kurse an den Aktienmärkten in den Keller rauschen wie aktuell, wollen wir Erklärungen dafür. Was ist passiert, warum ist es passiert, und wie geht es weiter? Oft werden dabei aus losen Zufällen Kausalitäten: Die Märkte fallen, weil dieses und jenes passiert sei. Im Crash der vergangenen Tage – der heute vermutlich weiter gehen wird – ist das anders. Die Zusammenhänge sind, ein eher seltenes Phänomen, einigermaßen deutlich. Erstens hat die Entwicklung der Zinsen in den USA die seit Jahren geltende eiserne Regel infrage gestellt, dass Aktien aufgrund der quasi nicht vorhandenen Zinsen alternativlos seien. Seit Herbst 2017 kletterte die Rendite von US-Staatsanleihen mit zwei Jahren Restlaufzeit von 1,3 auf zwischenzeitlich 2,1 Prozent, für zehnjährige US-Staatsanleihen gab es vergangene Woche zeitweise wieder knapp 2,9 Prozent Rendite. Der Zinsanstieg reflektierte, dass Akteure am wichtigsten Kapitalmarkt der Welt von weiter steigenden Leitzinsen ausgehen, denn der Jobaufbau und die Wirtschaftsdaten stützen diese Perspektive. Es war immer klar, dass es ein Zinsniveau geben muss, ab dem es für die Aktienkurse schmerzhaft wird. Profis hatten dieses Niveau eher bei 3,5 bis 4 Prozent verortet (siehe Capital-Interview hier). Ganz offensichtlich waren aber schon 2,7 Prozent bei zehnjährigen Papieren gefährlich – dieses Niveau wurde vergangene Woche erreicht, anschließend begann die Talfahrt der Aktienkurse. Aber ist das verwunderlich? Ganz offenbar kommen Anleger ins Grübeln, ob 2,7 Prozent sichere Zinsen nicht doch besser sind als 1,8 Prozent unsichere Dividendenrenditen, wie sie aktuell der Standardwerteindex S&P 500 bietet. Zweitens sind wir Zeuge eines so genannten „Truthahn“-Events geworden. Ihn zu verstehen ist für den laufenden Einbruch sehr wichtig. Der Begriff „Truthahn-Event“ stammt vom Autor Nassim Taleb, er beschrieb in einem Buch, dass der Truthahn sich eigentlich jeden Tag freut, gefüttert zu werden – bis zu dem Tag, an dem er geschlachtet wird. Was ein relativ abrupter, für ihn völlig unerwarteter Vorgang ist. Einen solchen nicht ganz unerwarteten, aber abrupten Bruch eines jahrelangen Trends gab es am Montag im Reich der börsengehandelten Anlageprodukte: Dort gibt es seit Jahren so genannte „Exchange Traded Notes“, deren Kursentwicklung von der Volatilität an den Märkten abhängt. Vereinfacht gesagt klettern diese auch in Deutschland gehandelten Produkte an Wert, wenn die Volatilität sinkt und fallen im Wert, wenn sie steigt. Teils bilden sie ein Mehrfaches der Kursentwicklung ab: Fällt die Volatilität um eine Einheit, steigt das Produkt um zwei. Nun war die Volatilität jahrelang extrem niedrig. Immer wieder auf noch niedrigere Volatilität zu setzen (oder ihren schnellen Rückfall, wenn sie denn einmal anzog), war jahrelang eine einfache Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die Bank of America Merrill Lynch schätzte in einer Research-Note in der Nacht, dass rund 8 Mrd. US-Dollar in solche Produkte investiert worden sind, die auf fallende Volatilitäten setzen. Die Niedrigzinsen machen eben kreativ, Renditen aus allem erzielen zu wollen. Im Handelsverlauf am Montag kam es dann zu einem dramatischen Anstieg der Volatilität in den USA. Der Volatilitätsindex VIX des US-Terminmarkts – er misst die erwartete Schwankung des US-Standardwerteindex S&P 500 – verdoppelte sich von knapp 18 auf 36. Das war ein stärkerer Ausschlag als in den Tagen des Brexit-Referendums, der US-Wahl im Herbst 2017 und der überraschenden Abwertung der chinesischen Währung im Sommer 2015. Mit diesem Volatilitätsanstieg hatten nur wenige Akteure gerechnet. Vor allem aber sorgten sie für dramatische Verluste bei jenen Produkte, die an fallender Volatilität verdienen sollen. Die Produkte werden auch in Deutschland gehandelt, hier exemplarisch ein Produkt. Die Anbieter dieser Produkte versuchen, keine Wetten gegen die Käufer einzugehen, deshalb kam es zu einem Lawineneffekt: Steigende Volatilitäten führten dazu, dass sich die Anbieter immer stärker gegen noch mehr Nervosität absichern mussten. Das taten sie mit Panikverkäufen sowohl am Aktien- als auch am Terminmarkt, was wiederum wie ein Brandbeschleuniger wirkte – ein Kreislauf, der an die frühen Tage der Finanzkrise erinnerte.

Dow Jones stürzt ab

Drittens sind die geschätzt 8 Mrd. US-Dollar in solchen Produkten eine beherrschbare Summe. Die Kettenreaktion bei der Volatilität hat aber Übersprungseffekte, die auch den Aktien- und Anleihenmarkt erfassen. In Zeiten niedriger Zinsen verwalten Menschen wie Maschinen ihre Portfolios oft recht simpel: Sie sind in Aktien investiert, so lange es geht, und wie hoch und wie lange, ist dabei schlicht eine Funktion der Volatilität. Bei steigender und hoher Nervosität rotieren sie lieber heraus aus Aktien. Bei sinkender und niedriger Volatilität eben wieder rein. Das mag prozyklisch und nicht eben klug klingen, hat aber jahrelang hervorragend funktioniert und kommt Anlegerwünschen entgegen: In Krisen lieber nicht riskant investiert sein. Zudem ist der Bedarf nach solchen Volatilitätsstrategien auch wegen der niedrigen Zinsen hoch: Wenn schon die Zinsen lange kaum nennenswerte Renditebeiträge geliefert haben, muss eben das Rotieren rein und raus aus Aktien und rein in sichere Anlagen für Rendite und gegebenenfalls Sicherheit sorgen. Genau diese Bewegung war daher am Montag in den USA zu beobachten: Lehrbuchhaft kletterten die Kurse von Anleihen, während die der Aktienkurse sanken, weil Investoren aus Aktien in Anleihen rotierten. Am Tagesende hatte der Dow-Jones-Index knapp fünf Prozent verloren, die Renditen von US-Staatsanleihen waren jedoch aufgrund steigender Anleihenkurse von knapp 2,9 auf 2,7 Prozent gefallen. Viertens werden Sie sich nun fragen: Wie geht es weiter? Das kann Ihnen natürlich niemand seriös und sicher beantworten. Eine Abwärtsbewegung kann rasch eine Eigendynamik entwickeln, ganz egal, ob ihr eigentlicher Anlass beherrschbar oder gar bereits abgehakt ist. Andererseits ist nun genau das Ereignis eingetreten, vor dem Kritiker lange gewarnt haben: Ein rasanter Anstieg der Volatilität, der die Anlagemodelle und den erneuten Wildwuchs an exotischen Anlageprodukten einer Belastungsprobe aussetzt. Erst jetzt bemerken viele Anleger, dass im Kleingedruckten ihre Volatilitätsanlagen steht, dass die Produkte außerbörslich liquidiert werden können bei Extremereignissen. Kurzfristig wird nun eine Hexenjagd beginnen, ob den Anbietern der börsengehandelten Volatilitätsprodukte Verluste entstehen könnten - zum Beispiel, weil sie ihre Produkte nicht richtig absichern konnten. Der erste Verdächtige hierbei ist die Credit Suisse, ein großer Anbieter, der allerdings klargestellt hat, sie sei materiell von der Bewegung nicht getroffen. Mittelfristig stehen den Kapitalmärkten, wie schon im großen Capital-Jahresausblick beschrieben, schwierige Monate ins Haus. Die Kombination aus steigenden US-Leitzinsen, einem synchronen Wirtschaftsaufschwung in allen großen Industrieländern und längst nicht mehr günstigen Aktienmarktbewertungen lässt wenig Raum für negative Überraschungen – der scharfe Volatilitätsanstieg, obschon eher technisch getrieben, war ein solcher.

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