Bert Flossbach ist Gründer und Vorstand der Vermögensverwaltung Flossbach von Storch.
David Kostin ist Chefaktienstratege USA bei Goldman Sachs.
Capital: Herr Kostin, Herr Flossbach, die Rally an den Aktienmärkten geht nun ins neunte Jahr, und auch der Jahresauftakt 2018 brachte weitere hohe Kursgewinne. Hand aufs Herz: Wird Ihnen da nicht langsam mulmig?

Flossbach: Nein, was derzeit passiert, läuft nach Fahrplan: die Kurse der globalen Aktienmärkte klettern, weil immer mehr Investoren Aktien höhere Bewertungen zubilligen. Angesichts der extrem niedrigen Kapitalmarktzinsen zu Recht. Investoren brauchen eine Weile, sich daran zu gewöhnen. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert. Zumal Aktien gemessen am Zinsniveau und im Vergleich zu anderen Anlageklassen immer noch attraktiv bewertet sind.
Das hören Anleger jetzt seit Jahren. Kann dieses Argument überhaupt noch Investoren überzeugen, frisches Geld in den Aktienmarkt zu schießen?

Kostin: Nur weil eine Aktienrally schon sehr lange läuft, heißt das nicht, dass sie bald endet. Es gibt zum Beispiel eine erstaunliche Parallele zur Aktienrally nach dem großen Crash 1987: Die US-Aktienmärkte legten damals in den neun Jahren danach genau so stark zu wie in den neun Jahren seit dem Kurstief nach der Finanzkrise 2009 bis heute. Auch damals, also nach jenen neun starken Jahren, war die Skepsis groß – und die Aktienmärkte weitaus höher bewertet als heute bei zugleich viel höheren Zinsen. Der damalige US-Notenbankchef Alan Greenspan hielt daher auch 1996 seine berühmte Rede, in der er von „irrationalen Übertreibungen” sprach. Und, was ist passiert? In den folgenden Jahren verdoppelte sich der US-Aktienmarkt zu seinem Höhepunkt im Jahr 2000 noch einmal!
... um anschließend sehr tief zu stürzen in den Jahren 2000 bis 2003. Sorgt Sie nicht die historisch sehr hohe Bewertung des US-Aktienmarktes? Er ist mit Blick auf fast alle Kennziffern wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis, Kurs-Buchwert-Verhältnis oder der Dividendenrendite teurer als in 90 Prozent aller bisherigen Börsenjahre.
Kostin: Dass US-Aktien im historischen Vergleich zu hohen Bewertungen gehandelt werden, ist unbestritten. Allein: Die Alternativen – insbesondere Anleihen, aber auch Immobilien – sind auch nicht billig, dort ist das Ausmaß an historisch hohen Bewertungen teils noch drastischer. Und: Für weiter steigende Kurse brauchen wir gar keine Investoren, die Aktien eine noch teurere Bewertung zubilligen. Die Kurse steigen wegen des hohen Gewinnwachstums: Der Optimismus der US-Firmen ist auf einem 35-Jahres-Hoch. Die US-Steuerreform wird den Gewinn je Aktie der US-Unternehmen laut unseren Schätzungen in diesem Jahr um 14 Prozent klettern lassen. Die Umsätze der Unternehmen wachsen, die Margen sind nahe Rekordhochs.
Das sieht auch die US-Notenbank so – und dürfte die Zinsen immer weiter anheben. Die Ökonomen Ihrer Bank, Goldman Sachs, prognostizieren bis Ende 2019 daher nicht weniger als acht weitere Zinsschritte. Wie soll das der Aktienmarkt ohne Einbrüche verkraften?
Kostin: Die kurzfristigen Zinsen werden steigen, ja. Aber sie werden nicht vollständig auf die langfristigen Zinsen durchschlagen, und die sind relevant für die Bewertung der Aktienmärkte. Wir erwarten eine Abflachung der US-Zinskurve, was bedeutet, dass die kurzfristigen und langfristigen Zinsen eng beieinander liegen. Das heißt: Wir rechnen damit, dass die Rendite für zehnjährige US-Staatsanleihen bis Ende 2018 auf 3,0 Prozent steigt, nach aktuell 2,5 Prozent.
Wo liegt denn Ihre Schmerzgrenze, ab der es für Aktien langsam gefährlich wird bei den US-Zinsen?
Kostin: Aus jetziger Sicht wäre das bei 3,5 bis 4,0 Prozent Rendite für zehnjährige US-Staatsanleihen, das ist aber wie gesagt nicht das, was unsere Ökonomen vorhersagen. Außerdem kennen die Zinserhöhungen ja auch Gewinner, etwa im US-Finanzsektor, den wir für 2018 favorisieren.
Flossbach: Ich halte die Sorge vor steigenden US-Zinsen für überzogen. Mehr denn je muss man die Kapitalmärkte global sehen. Die US-Notenbank ist zwar in einem Zinserhöhungszyklus und schrumpft ihre Bilanz. Aber: Ihr Spielraum ist und bleibt mit Blick auf die anderen großen Notenbanken begrenzt. Die nach wie vor sehr lockere Geldpolitik von EZB, Bank of England und Bank of Japan wirkt wie ein Bleigewicht, das die US-Zinsen unten hält.
Kostin: Exakt!
Flossbach: Ich halte es ohnehin für falsch, global agierende Konzerne aus den USA mit lokalen Zinssätzen in den USA zu vergleichen.
Was schlagen Sie alternativ vor?
Flossbach: Packen wir die Staatsanleihe-Renditen aller großen Industriestaaten zusammen, kommen wir auf einen Mittelwert, den „Weltzins“ sozusagen, von rund 1,5 Prozent. Gemessen daran sind weder US-Konzerne noch die weltweiten Aktienmärkte teuer. Die Gewinnrendite der globalen Aktienmärkte, also wie viel Prozent Gewinn schöpfen die Unternehmen aus einem investierten Euro pro Jahr, liegt hingegen bei rund 5,5 Prozent. Da ist in den kommenden Jahren noch Luft nach oben.
Gilt das auch für die großen US-Technologiewerte, deren Rally ebenfalls Züge von Euphorie zeigt?
Kostin: Von welcher Euphorie reden Sie? Die Bewertungen sind aktuell viel niedriger als etwa 1999.
Flossbach: Das stimmt. Wir lagen Ende der 90er-Jahre, kurz vor dem Platzen der Technologieblase, bei einem globalen Kurs-Gewinn-Verhältnis von 24 bei zugleich viel höheren Zinsen. Aktuell sind es 18.
Kostin: Fondsmanager sind unseren Berechnungen zufolge untergewichtet in vier der fünf großen Technologieaktien, nämlich Apple, Amazon, Facebook und Microsoft. Zusammengerechnet steigern die fünf großen Tech-Unternehmen ihre Umsätze um 20 Prozent, also fünfmal so schnell wie die erwarteten vier Prozent für die restlichen S&P 500 Unternehmen. Und das bei viel höheren Gewinnmargen. Trotzdem sind sie gemessen an ihrem Wachstum alles andere als teuer. Fallen Ihnen spontan große europäische Konzerne ein, die mit diesem Tempo wachsen? Mir nicht.
Mit den Umsätzen steigt auch die Marktmacht der großen Technologiekonzerne. Müssen sich Anleger perspektivisch auf Kartellprobleme und -klagen, wenn nicht gar eine Zerschlagung von Amazon, Google und Co. einstellen?
Flossbach: Das ist nicht meine Prognose. Aber es ist meiner Meinung nach klar das größte Risiko – nicht wahrscheinlich, aber etwas, was man sehr genau beobachten muss. Der Chef einer großen US-Bank erklärte mir kürzlich in kleiner Runde, dass er selbst davon ausgehe, dass sich die Europäer dieses Themas bald annehmen könnten. Ich würde behaupten, dass die Bewertungen von Google oder Amazon genau diese Sorge um einen möglichen Monopolmissbrauch bereits reflektieren. Gemessen an ihrem operativen Geschäft sind beide Unternehmen jedenfalls nicht zu hoch bewertet!
Kostin: Regulierung ist sicherlich ein Thema. Aber Monopole und Zerschlagung sind große Worte. Zum einen zeigt die Vergangenheit, dass solche Prozesse – etwa bei der Telefongesellschaft AT&T oder bei Microsoft mit seinem Internetbrowser – zwischen zehn und 20 Jahren dauern. Zum anderen und viel wichtiger: Google oder Amazon sind nicht deshalb so groß geworden, weil sie Macht missbrauchen, sondern weil sie schlicht Produkte bieten, die Kunden haben wollen und immer häufiger genutzt worden. Kennen Sie den weltgrößten Fernsehsender?
Flossbach: Youtube.
Kostin: Genau. Und weil Menschen immer mehr Zeit mit Youtube und Sozialen Medien verbringen, gewinnen sie eben immer mehr Werbebudgets hinzu, während etwa TV-Stationen und Printprodukte sie verlieren. Amazon wiederum ist ein Händler – aber einer mit einem immer noch kleinen Marktanteil, der nicht mal im entferntesten etwas mit einem Monopol zu tun hat.
Aber das Thema steht doch längst im Raum, vergangenen Sommer verpasste die EU-Kommission Google eine Strafe von 2,4 Mrd. Euro wegen Marktmissbrauchs.
Kostin: Was glaube ich passieren wird: Die großen US-Konzerne werden stärker reguliert werden, ja. Zum Beispiel, indem die Technologiekonzerne die Daten ihrer Kunden innerhalb des Unternehmens und Landes belassen müssen. Oder Google seinen Suchalgorithmus in einem Land anpassen muss. Solche Dinge kosten, klar ...
Flossbach: ... Facebook hat auch angekündigt, 10.000 Mitarbeiter einzustellen, die Inhalte kontrollieren ...
Kostin: Das mag sein, und ja: Regulierung kostet. Aber sich den großen US-Technologiekonzernen mit der Frage nach einem möglichen Marktmissbrauch zu nähern, ist zumindest für Anleger meiner Meinung nach irreführend. Diese Konzerne wachsen fünfmal so schnell wie die US-Wirtschaft, und sie erwirtschaften doppelt so hohe Margen wie der Schnitt anderer US-Konzerne bei einer weiter moderaten Bewertung. Und das einfach weil sie gut sind, und Produkte und Dienstleistungen bieten, die Kunden und Nutzer haben wollen. Solange diese drei Dinge stimmen: Umsatzwachstum, Marge, Bewertung – sollten die großen US-Techwerte weiterhin gut performen.
Wenn man Ihnen so zuhört, scheint wenig Raum für Pessimismus zu sein, trotz historisch hoher Bewertungen, neun Jahren Rally bei nahenden Zinserhöhungen. Gibt es denn auch Dinge, die Sie sorgen?
Flossbach: Natürlich wäre ein sehr starker Zinsanstieg Gift für die Aktienkurse. Er ist aber nicht unser Basisszenario. Es ist ein Paradoxon: Solange es genügend potenzielle Krisen gibt, gibt es auch eine latente Bereitschaft der Notenbanken, jederzeit unterstützend einzugreifen. Und solange ein deutlicher Zinsanstieg vor allem in der Eurozone als möglicher Auslöser der nächsten Krise gilt, wird die EZB ihn nicht zulassen.
Kostin: Nochmals: Ich will gar nicht abstreiten, dass wir aktuell historisch hohe Bewertungen sehen. Und auch nicht, dass die Bewertung über mittlere lange Sicht ein meist guter Indikator für künftige Renditen war. Aber es ist jenseits der Bewertungen zyklisch einfach noch viel Raum. Und steigen die Umsätze und Gewinne kräftig wie in unserem Basiszenario, sinkt auch die Bewertung der Aktienmärkte.
Wie viel Prozent Rendite pro Jahr sind denn in den kommenden Jahren Ihrer Meinung nach noch drin mit dem US-Aktienmarkt als Weltleitbörse mit aktuell 60 Prozent Gewicht im gesamten globalen Aktienmarkt?
Kostin: Ich freue mich ja, dass Sie nach den Renditen über mehrere Jahre hinweg fragen und nicht nach schwer prognostizierbaren Jahresendzielen. Ich glaube, über die kommenden drei Jahre hinweg sind mit US-Aktien Renditen von rund sieben Prozentpunkten pro Jahr möglich; fünf Prozentpunkte aus Kursgewinnen, zwei Prozentpunkte aus Dividenden. Das dürfte aber nicht über ein ganzes Jahrzehnt zu halten sein. Über zehn Jahre gehen wir von rund vier Prozent Gesamtrendite pro Jahr aus.
Flossbach: Wir haben zwar einen globalen Blick, aber mit der Prognose kann ich mich auch anfreunden. Mit US-Aktien profitiert man aus deutscher Sicht zudem von einem wieder stärkeren Dollar...
Kostin: ... mit dem wir mittelfristig auch rechnen.
In Deutschland steigt weder die Zahl der Aktionäre, noch gibt es nennenswerte Umschichtungen aus Spar- und Tagesgeldkonten in Aktien. Haben die Sparer nicht Recht, weil die Perspektive von vier Prozent Rendite pro Jahr mit dem Risiko kurzfristiger Rückschläge von 30 oder 40 Prozent erkauft wird?
Flossbach: Ich nehme an, David Kostin ist über die Anlagestrategie der Deutschen mehr als irritiert. Und nein, natürlich haben sie nicht recht! Es ist kein finanzielles Risiko, Aktien oder reale Werte zu besitzen, sondern es ist ein Risiko, sie nicht zu besitzen. Ohne reale Werte erodiert ihr Geldvermögen jedes Jahr um die Inflation von zuletzt knapp zwei Prozent.
Kostin: Ich spreche ja mit Anlegern weltweit, und diese Haltung ist längst keine Besonderheit deutscher Privatanleger. Es ist einfach eine kulturelle Frage: Privatanleger in den USA halten einen großen Anteil ihres Vermögens in Aktien. Bei Privathaushalten reden wir da von recht konstanten 40 Prozent, und das über die letzten 25 Jahre hinweg. Darf ich fragen, wie hoch sie in Deutschland ist?
Flossbach: Bezogen auf den direkten Besitz rund sechs Prozent, indirekt – also inklusive der Fondsanlagen und Versicherungsansprüchen – sind es rund elf Prozent.
Kostin (etwas ungläubig): Bei null Prozent auf Sparguthaben?
Ja.
Kostin: Nun gut, das ist wenig ...
Flossbach: ... und trägt leider dazu bei, dass andere europäische Länder mit viel geringeren Sparquoten ihr Vermögen viel dynamischer steigern, übrigens auch wegen der niedrigen Eigentumsquote bei Immobilien in Deutschland. Aber lassen Sie uns nicht über Privatanleger schimpfen, die Aktienquoten der großen Pensionskassen in Deutschland sind mit durchschnittlich 20 Prozent auch nicht viel besser.
Kostin: Auch da ist die Quote in den USA dreimal so hoch, bei rund 60 Prozent. Dafür gibt es indes auch gute Gründe, sie legen das Geld ja sehr langfristig an, und in der Vergangenheit haben US-Aktien nach jeweils spätestens sieben Jahren Anleihen in Sachen Rendite immer wieder ein- und überholt, selbst in denkbar schlechten Börsenphasen. Auch das ist eine Funktion des kulturellen Unterschieds: die US-Pensionskassen glauben, sie könnten ihre Renditeziele nur mit einem hohen Aktienanteil erfüllen.
Flossbach: ... während die Deutschen glauben, sie könnten sie nur erfüllen, indem sie wenig Aktien halten und folglich kaum kurzfristige Risiken eingehen. Ich sage da leider immer: Eure Anlagepolitik ist total aus dem Gleichgewicht.
Wie sieht denn Ihre Lösung dafür aus?
Kostin: Wir haben in den USA sehr gute Erfahrungen mit einer Veränderung der Betriebsrenten gemacht: Anstatt dass sich Mitarbeiter aktiv für eine Altersvorsorge entscheiden müssen, sind sie automatisch drin, können aber auch darauf verzichten, indem sie dies erklären. Der Standard ist dann also, dass alle zunächst in eine Betriebsrente einzahlen. Das steigert die Verbreitung enorm und ist auch verhaltensökonomisch gut erforscht.
Flossbach: Die Deutschen sollten von den Amerikanern lernen, die mehr machen aus ihrer Geldanlage, weil sie ganz selbstverständlich in Aktien investieren. Deutschland geht es wirtschaftlich hervorragend. Trotzdem sind wir nicht gut vorbereitet auf eine längere Phase finanzieller Repression, also eine Zeit, in der die Inflation dauerhaft höher ist als das Zinsniveau und damit Sparvermögen und Liquidität entwertet.