Als in der New Yorker Finanzwelt die Hölle losbricht, ist John Pierpont Morgan mit Gott beschäftigt. Es ist der 17. Oktober 1907, und Morgan, damals wohl mächtigster Geschäftsmann der Vereinigten Staaten, hält sich seit zwei Wochen in Richmond, Virginia, auf. Als einer von 1000 Delegierten nimmt er an der Generalversammlung der Episkopalkirche teil. Er ist in einem komfortablen Haus einer Tabakdynastie untergekommen, in dem er Glaubensbrüder empfängt und über Gebetsordnungen berät, wenn er nicht gerade an einer der Veranstaltungen in Richmonds Kirchen teilnimmt.
Der Banker, ein kräftiger Mann mit eng stehenden Augen und einem markanten Schnurrbart, ist im gleichen Jahr 70 geworden – und hat eigentlich bereits begonnen, sich aus den täglichen Geschäften seines Hauses J. P. Morgan & Company zurückzuziehen. Für die kommenden drei Wochen aber steht ihm ein Kampf bevor, der ihm keine Zeit lassen wird, auch nur eine Nacht durchzuschlafen. Morgan soll es mit einer der größten Finanzkrisen in der Geschichte seines Landes zu tun bekommen. Sie wird Tausende Firmen in die Pleite treiben, die Arbeitslosenrate im Land mehr als verdoppeln und die Industrieproduktion der USA um elf Prozent drücken.
Die Folgen dieser Krise prägen unsere Wirtschaftsordnung noch heute. Der Crash von 1907 ebnet den Weg für etwas, das es in den USA bis dahin nicht gab: eine Zentralbank. Die Fed. Seit rund 100 Jahren soll sie sich Katastrophen an den Finanzmärkten entgegenstemmen. J. P. Morgan aber muss die Krise noch alleine bewältigen.
Die Panik schleicht sich an
Der Zusammenbruch der Wall Street kommt nicht aus heiterem Himmel. Seit Morgans Abreise nach Richmond erreichen ihn täglich Telegramme, die sich wie Warnungen vor einem Sturm lesen, der gerade erst Atem holt. Die USA haben im Jahr 1907 eine atemberaubende Boomphase hinter sich. Seit der Jahrhundertwende ist die Volkswirtschaft im Schnitt um fast sechs Prozent pro Jahr gewachsen, die Industrieproduktion hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren fast verdoppelt, der Fortschritt eilt durchs Land. Die ersten Stränge der New Yorker U-Bahn sind entstanden, und Thomas Edison hat die Elektrifizierung des Landes vorangetrieben. Die riesige Nachfrage nach Kupfer und anderen Rohstoffen hat deren Produzenten schnell reich gemacht.
Im April 1906 aber trifft ein Schock die USA: das Erdbeben von San Francisco, eine der folgenreichsten Naturkatastrophen der US-Geschichte. Was nicht vom eigentlichen Beben zerstört wird, frisst die nachfolgende Feuersbrunst. Mindestens 3000 Menschen sterben. Der Wert der Schäden beträgt fast zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und die Versicherungskonzerne müssen gewaltige Lasten schultern. Von der Wall Street fließt Kapital in den Westen des Landes ab, und in New York wird nach dem lang anhaltenden Aufschwung an der Börse schlicht das Geld knapp. Jack Morgan, der als Sohn von J. P. die offizielle Leitung des Bankhauses übernommen hat, schreibt an seine Londoner Kollegen: „Der Aktienmarkt bewegt sich auf eine Weise, die für die Zukunft möglicherweise einigen Ärger verheißt.“
Unsicherheit schleicht sich in der ersten Jahreshälfte 1907 in die Geschäfte. Der Index Dow Jones Industrial Average hat seit seinem Höhepunkt 1906 über acht Prozent verloren, und der Trend setzt sich fort. Die allgemeine Stimmung wird noch dadurch verschlechtert, dass es die Bank of England amerikanischen Unternehmen nun drastisch erschwert, Gold aus England abzuführen; sie will die eigenen Reserven schützen.
Doch eine echte Panik gibt es nicht. Noch nicht. Die Wall Street hofft weiterhin, mit einem blauen Auge davonzukommen. Dann aber betritt ein Mann die Bühne von New York, der bereit ist, in dieser heiklen Situation ein aberwitziges Husarenstück aufzuführen – dessen Scheitern eine Lawine ins Rollen bringt.
Fritz Augustus Heinze, Sohn eines wohlhabenden deutschen Einwanderers, hat im Kupferbergbau ein Vermögen gemacht. Er gilt als Unternehmer, der sich um Anstand wenig kümmert. In Butte, dem Kupfermekka von Montana, hat Heinze sein Geld weniger mit eigener Förderung verdient – sondern indem er eine juristische Lücke ausnutzt: Er kauft im großen Stil Grundstücke, die an Fördergebiete anderer grenzen. Wenn eine Kupferader auch nur ein Stück auf sein Territorium reicht, überzieht Heinze die Nachbarn mit Klagen – bis sie Strafe zahlen oder ihm sein Eigentum teuer abkaufen. Selbst der Rohstoffzar John D. Rockefeller berappt Geld, um endlich Ruhe zu haben. Mit voller Kriegskasse kommt Heinze 1907 im Alter von 37 Jahren nach New York. Er ist ein Frauenheld, der weder einem Trinkgelage noch einer Schlägerei aus dem Weg geht. Und ein Spieler, der jetzt auf dem ganz großen Pokertisch gewinnen will.
Ein Husarenstück geht schief
Mit seinen Brüdern Otto und Arthur betreibt Heinze eine kleine Brokerfirma. In dem sowieso schon nervösen Markt wollen sie im großen Stil Aktien der United Copper Company aufkaufen – eines Unternehmens, das Heinze einst selbst gegründet hat. Um die Käufe zu finanzieren, leihen sich die Brüder Geld bei anderen Brokern. Wie so oft bei Heinze geht es bei dem Kauf um ein verborgenes Ziel. Der Wall-Street-Neuling glaubt fest, dass Börsianer im großen Stil auf fallende Kurse setzen und heimlich Leerverkäufe mit Anteilen von United Copper getätigt haben. Bei diesen Leerverkäufen leihen sich Spekulanten Aktien eines Unternehmens und verkaufen sie umgehend zum geltenden Kurs. Wenn der Kurs später fällt, können sie die Aktien deutlich günstiger ersetzen und dem Verleiher zurückgeben. Die Differenz ist ihr Gewinn.
Heinze ist sicher, dass das in großem Stil geschehen ist – und dass er eine Mehrheit an United Copper zusammenkaufen kann, die die Leerverkäufer in die Bredouille bringen wird. Er will den Preis hochtreiben und die Spekulanten zwingen, sich aus Mangel an Alternativen zum gestiegenen Preis bei ihm einzudecken.
Doch der waghalsige Plan scheitert. Als die Heinzes am 15. Oktober beginnen wollen, die Leerverkäufer in die Enge zu treiben, stellt sich heraus, dass die Brüder ihre eigene Kontrollmacht überschätzt haben. Die Menge der gehandelten Aktien ist durch Leerverkäufe längst nicht so aufgebläht, wie sie dachten – tatsächlich sind viel mehr „echte“ Papiere an der Börse als erhofft. Kein Leerverkäufer ist gezwungen, zu überhöhten Preisen bei den Heinzes zu kaufen. Stattdessen haben die Heinzes nun ein Problem: Sie haben mehr Aktien gekauft, als sie bezahlen können. Als das bekannt wird, ist der Teufel los auf der „Curb“ – dem Bereich außerhalb des Börsengebäudes, wo der Handel abgewickelt wird. „Niemals hat es derart wilde Szenen auf der Curb gegeben“, schreibt das „Wall Street Journal“ in seiner Ausgabe vom 17. Oktober. Binnen Stunden fällt der Kurs der United Copper ins Bodenlose, und die Heinzes sitzen auf einem Schuldenberg.
Der gottgleiche Banker
Die Pleite der Brüder löst eine Kettenreaktion aus, und die triste Stimmung an der Wall Street wird zur echten Panik. Zunächst gehen die Institute in die Knie, bei denen sich die Heinzes Geld geliehen haben, das sie nun nicht zurückzahlen können. Dann trifft es die Mercantile National Bank, deren Präsident und wichtiger Anteilseigner Fritz Augustus Heinze ist. Verunsichert ziehen die Kunden ihr Geld ab, es kommt zu einem Bank-Run, der sich auf andere kleinere Banken ausweitet. Und schließlich gerät ein Unternehmen in den Strudel, das zu den angesehensten an der Wall Street gehört: die Knickerbocker Trust Company, ein Institut mit fast 18.000 Kunden. Die Börse ist geschockt, der Dow Jones stürzt allein im Oktober 1907 um über 15 Prozent und erlebt einen der schlimmsten Monate seiner Geschichte.
Als es für den Knickerbocker Trust eng wird, ist allen klar, dass die Krise nun das Herz der Finanzwirtschaft erreicht hat. Es ist der Moment, in dem J. P. Morgan die Kirchenversammlung in Richmond verlässt und nach New York zurückkehrt. Der alte Mann wird gebraucht.
Morgan besteigt am Abend des 19. Oktober einen privaten Zug nach New York. Der Banker bringt aus Richmond eine heftige Erkältung mit. Seine Augen tränen, seine Nase – wegen einer Hautkrankheit ohnehin stets rot – ist geschwollen, seine Stimme krächzt. In der Finanzmetropole wird er trotzdem erwartet wie der Heiland. Es gibt zu dieser Zeit keine garantierte Einlagensicherung für Bankkunden, auch das gegenseitige Stützsystem der Finanz-institute taugt wenig. Einen „lender of last resort“, der in Krisensituationen fehlende Liquidität bereitstellen kann, haben die USA nicht, da sich das Konzept einer Zentralbank bis dato nicht durchgesetzt hat. In einer solchen Lage wird eine Autorität benötigt, die der Finanzbranche die Richtung weist. Dafür kommt nur J. P. Morgan infrage.
Der 70-Jährige trägt an der Wall Street den Spitznamen „Jupiter“, und tatsächlich hat seine Stellung gottgleiche Züge. Sein Haus ist an fast allen großen Deals beteiligt, gegen ihn lässt sich kaum ein größeres Geschäft gefahrlos durchziehen. Zugleich vertraut er auf strategische Absprachen eines kleinen, feinen Zirkels von Bankern und Industriellen. Er liebt es, den Markt über ein Geflecht persönlicher Beziehungen zu steuern. Dagegen verachtet er waghalsige Finanzjongleure wie Heinze, die vor allem kurzfristige Spekulationsgewinne einfahren wollen.
Unter Morgans Beteiligung sind US-Großkonzerne wie General Electric und U. S. Steel entstanden, die seiner Vorstellung davon entsprechen, wie die amerikanische Industrie organisiert sein sollte: geführt von einer Handvoll fähiger Manager, die einander kennen und achten und die Probleme bei einer Havanna miteinander ausräumen. Für diese Art des Geschäftemachens, das kaum auf lebendigen Wettbewerb setzt, etabliert sich sogar ein eigener Begriff: das „Morganizing“. Das Prinzip leitet Morgan auch in der Krise von 1907. Später fasst er es selbst in einem einzigen Satz zusammen: „Ein Mann, dem ich nicht vertraue, könnte kein Geld von mir bekommen, und wenn er alle Wertpapiere der Christenheit als Sicherheit vorlegen würde.“
Präsident auf Bärenjagd
Es gibt allerdings einen Mann, der mit Morgan und seinem Verständnis von Wirtschaft nur wenig anfangen kann: der amtierende US-Präsident Theodore Roosevelt. Roosevelt misstraut den großen Industriekonglomeraten und fürchtet ihren Hang zum Monopol. Im Mai 1907 warnt der Präsident in einer Rede, das Eigentum der Bürger sei „weniger von Sozialisten oder Anarchisten bedroht als vom räuberischen reichen Mann“ – eine Haltung, in der viele Kritiker einen Grund für die Verschärfung der Krise sehen: Das öffentliche Misstrauen gegenüber dem Finanzsektor habe die Unsicherheit am Markt noch angefacht.
Einige Jahre zuvor hat Roosevelt ein Eisenbahnunternehmen Morgans in einem Kartellverfahren zerschlagen. Es war nur der Anfang eines erbitterten Kampfes gegen die amerikanischen Monopole. Tatsächlich sind die gemischten Industrie- und Finanzkonzerne, die sich in den USA herausgebildet haben, eine Schwachstelle des Systems. Diese sogenannten Trusts, zu denen auch der bedrohte Knickerbocker-Konzern gehört, werden um einiges schwächer reguliert als echte Banken, obwohl sie im Grunde ähnliche Funktionen erfüllen. So dürfen sie direkt an der Börse investieren und müssen weniger Reserven für ihre Einlagen vorhalten als die Banken. Verflochten wie sie sind, stellen sie ein ähnlich großes Risiko dar wie die US-Finanzkonzerne, die genau ein Jahrhundert später erneut die Wall Street zum Beben bringen werden.
Bloß: Als sich die Krise in New York zuspitzt, ist Roosevelt verhindert. Er jagt Schwarzbären in Louisiana. Also bleibt es an dem von Washington argwöhnisch beäugten J. P. Morgan, sich der Katastrophe entgegenzustemmen.
Polizei stoppt keine Pleite
Morgans Hauptquartier ist seine Bibliothek in der 36. Straße, ein Gebäude im neoklassizistischen Stil, mit Renaissancegemälden an den Wänden und seltenen Manuskripten in den Regalen. Dieses Haus, in dem sich heute ein Museum befindet, wird in den kommenden Wochen zu einem Schlachtfeld – und zu einer Ikone der amerikanischen Wirtschaftsgeschichte.
Nach seiner Ankunft braucht Morgan den ganzen Sonntag, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Banker und Trust-Chefs geben sich in der Bibliothek die Klinke in die Hand, und Morgan wird immer klarer, dass vor allem die wachsende Panik irgendwie gestoppt werden muss. „Das schlimmste und gefährlichste Phänomen aus Sicht der Wall Street ist die Aufregung in der Öffentlichkeit“, schreibt das „Wall Street Journal“. Vor der Bibliothek haben sich Reporter versammelt, die mitbekommen haben, dass „Jupiter“ wieder in der Stadt ist.
Ein Problem sind die Trusts. Weil sie lascher reguliert sind als Banken, lagern bei ihnen auch mehr Risikoanlagen. Morgan versammelt eine Gruppe von Vertrauten aus den Finanzzirkeln, um mit ihnen festzulegen, welche Institute systemrelevant sind und gerettet werden müssen – und welche nicht.
Schon am Dienstag nach Morgans Rückkehr, es ist der 22. Oktober, stellt sich heraus, dass die Zeit zu knapp ist, um die Lage der bedrohten Trusts in Ruhe zu prüfen. Nachdem sich mehrere Banken geweigert haben, von Knickerbocker ausgestellte Schecks einzulösen, kommt es zu einem Ansturm auf deren Zentrale in der 5th Avenue. Im Schalterraum quetschen sich die Schlangestehenden, bis sich kaum einer mehr bewegen kann, alle wollen ihre Schecks einlösen. Die Polizei soll für Ruhe und Ordnung sorgen, doch nach einigen Stunden stellt der Trust die Geschäfte ein. Der Andrang ist nicht mehr zu bewältigen.
Am Nachmittag desselben Tages fordert der immer noch erkältete Morgan Hilfe aus Washington an: George B. Cortelyou, seit März Finanzminister, kommt nach New York. Morgans Anfrage klingt eher nach Befehl als nach Bitte, doch auch Cortelyou ist klar, dass die Regierung bei der Rettung des Bankensystems mitspielen muss. Der Finanzminister sagt zu, öffentliche Gelder zuzuschießen und den Banken Staatsanleihen abzukaufen, um wieder Liquidität ins System zu bringen.
Als mit der Trust Company of America das nächste große Haus zu wanken beginnt und ähnliche Szenen drohen wie bei Knickerbocker, beschließt Morgan, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist. Nachdem er sich hat bestätigen lassen, dass der Trust im Kern liquide ist, sagt er zu seinen engsten Vertrauten: „Das ist der Punkt, ab dem wir dem Ärger ein Ende bereiten sollten.“ Morgan lässt sich die Wertpapiere des Trusts als Sicherheit vorbeibringen und präsentiert sie den Chefs der beiden größten Banken an der Wall Street – der National City Bank und der First National Bank. Sie sind einverstanden, sofort 3 Mio. Dollar in bar bereitzustellen: die Summe, die nötig ist, um einen Ansturm erst einmal zu überstehen.
Doch schnell wird klar, dass das Geld nicht reicht. Morgan versammelt die Chefs der großen anderen Trusts, um ihnen weitere Zugeständnisse abzuringen. Als die sich zieren, fragt er jeden einzelnen mit drohendem Blick, wie viel er zu geben bereit sei, und notiert das Ergebnis auf einem Zettel. Die eingeschüchterten Besucher lenken ein. Entwarnung für die Trust Company of America. Doch alle Beteiligten wissen, dass es weiter vor allem um Schadensbegrenzung geht. Eine heftige Rezession in den USA ist schon absehbar. Der Vertrauensverlust bei Investoren ist groß, und weil kaum einer mehr Kredit geben will, mehren sich die Firmenpleiten.
Ein Triumph
Zudem ist die Krise zu diesem Zeitpunkt längst keine rein amerikanische mehr. Schon damals sind Banken und Trusts international verflochten. Im Laufe des Jahres 1907 werden Banken in Ägypten, Japan, Deutschland, Holland und Südamerika gestürmt. Das Grundproblem ist die dramatische Kreditklemme durch den Ausfall der US-Investoren. Der Kern der Krise liegt in New York. Also muss die Lösung der Krise auch aus New York kommen. Von John Pierpont Morgan.
Der Banker steht nach der vorläufigen Rettung der Trust Company of America auf dem Höhepunkt seiner Popularität. In den Zeitungen des nächsten Tages wird er bejubelt. Morgans Schwiegersohn und Biograf Herbert Satterlee beschreibt die morgendliche Kutschfahrt als Triumphmarsch: „Schutzleute und Kutscher, die ihn kannten, riefen ‚Da fährt der alte Mann‘ oder ‚Da fährt der große Chef‘, und die Menschen, die das hörten, verstanden, um wen es ging, und rannten neben dem Wagen her, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.“ Selbst Präsident Roosevelt lässt sich von seinem Finanzminister zu einem öffentlichen Lob für die „konservativen und ernsthaften Geschäftsleute“ überreden, die in der Krise „mit solch Weisheit und Gemeinsinn“ gehandelt hätten.
Ab jetzt versuchen Morgan und seine Mitarbeiter, die Beliebtheit ihres Anführers zu nutzen, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Nicht jedes wankende Institut kann ausreichend mit Bargeld versorgt werden, umso wichtiger also, dass die allgemeine Panikstimmung sich legt. Sie gründen eine Art Presseabteilung, die alle Rettungsmaßnahmen sofort an die Zeitungen weiterleiten soll. Selbst Priester werden gebeten, zwei Botschaften von den Kanzeln zu predigen: Ruhe bewahren – und Banken nicht plündern! Die Gottesmänner bieten sogar ausdrücklich Seelsorge für furchtsame Anleger an. Am wichtigsten aber sind Morgans eigene Auftritte vor den Reportern. Bei einer Gelegenheit sagt er: „Wenn die Menschen ihr Geld in den Banken behalten, wird alles in Ordnung sein.“ Es ist sein Merkel-Steinbrück-Auftritt, seine Ein-Mann-Garantie.
Zu viel Macht
Auch die geschickteste Krisen-PR allerdings kann nicht verhindern, dass der Wall Street Anfang November noch einmal der Kollaps droht. Morgan arbeitet zu diesem Zeitpunkt an einer Übernahme des Eisenproduzenten TC&I durch U. S. Steel, um einen dramatischen Kursverfall der TC&I-Aktien aufzuhalten, der die ganze Börse ins Rutschen bringen könnte. Gleichzeitig brauchen mehrere Trusts erneut Geld – und die Bereitschaft der anderen Institute, noch einmal zuzuschießen, ist gering. Beide Probleme zusammen könnten alle bisherigen Rettungsaktionen zunichtemachen.
Morgan entscheidet sich in dieser Lage zu einem Schritt, der in die Geschichte eingehen soll: Er schließt die Chefs der Trusts in seiner Bibliothek ein. Niemand kann das Gebäude verlassen, bevor er sich nicht bereit erklärt mitzumachen. Unter Morgans Druck wagen auch die mächtigen Banker nicht mehr, sich der Rettungsaktion zu verschließen. Als es ihm dann auch noch gelingt, die von ihm mitgegründete U. S. Steel zur Übernahme von TC&I zu bewegen, ist das Schlimmste tatsächlich überstanden.
J. P. Morgan hat seinen letzten großen Auftritt gehabt, selbst Gegner wie Roosevelt bescheinigen ihm, dass er die Volkswirtschaft vor Schlimmerem bewahrt hat. Doch bald schon melden sich Kritiker, denen graut, wie viel Macht da in den Händen eines einzigen Mannes gelegen hat. Was, wenn er diese Macht nicht nur nutzt, um eine Krise zu entschärfen – sondern auch, um die Wirtschaft nach seinen Wünschen zu gestalten?
Eine immer wiederkehrende amerikanische Debatte wird durch ein weiteres Kapitel ergänzt: Wie viel Ordnung und Kontrolle braucht der Markt? Wie weit soll er die von ihm ausgelösten Krisen selbst bewältigen? Nach dem Chaos von 1907 setzt sich die Überzeugung durch, dass die USA eine Zentralbank brauchen, die in Notsituationen den Markt mit Liquidität versorgen kann. Es ist keine ganz neue Idee, aber diesmal ist der Druck groß genug, sie tatsächlich umzusetzen. Im November 1914 nimmt die Fed ihre Arbeit auf.
Geräuschlos? Widerstandslos? Natürlich nicht. Immer wieder geht es in hitzigen Diskussionen um die Machtkonzentration bei der Fed, und die Kritik kommt bei Weitem nicht nur von links. „Die Finanzeliten dieses Landes“, schreibt der libertäre Ökonom Murray N. Rothbard, „haben das Federal Reserve System durchgedrückt, und zwar als vom Staat geschaffenes und sanktioniertes Kartell, das es den Banken erlaubte, die Geldschöpfung auszuweiten, ohne dafür umgehend von ihren Kunden abgestraft zu werden.“ Die Fed ist aus dieser Sicht nur ein Weg von Morgan & Co., die Kontrolle in der Hand zu behalten.
Ein Vorwurf, der nie alt zu werden scheint. Ein gutes Jahrhundert nach der Krise von 1907 erschüttert die Lehman-Pleite die Welt, und gemeinsam mit dem Fed-Chef Ben Bernanke muss der Finanzminister Hank Paulson die Kartoffeln aus dem Feuer holen. Sein letzter Job davor: CEO bei Goldman Sachs.