„Indien ist das neue China“ lautet das Credo vieler Investoren. Die US-Investmentbank Goldman Sachs stufte vergangene Woche ihre Empfehlung für in Hongkong gehandelte chinesische Aktien herunter, während sie Indien auf „Overweight“ hob. Indien erwarte „die besten strukturellen Wachstumsaussichten in der Region“, für Investoren biete das Land eine breite Palette an Alpha-generierenden Themen. Auch die US-Investmentbank Morgan Stanley prognostiziert für die indischen Aktienmärkte eine starke Performance in der ersten Jahreshälfte 2024. Indien werde selbst bei einem globalen Wirtschaftsabschwung seine staatliche Konkurrenz übertreffen und habe das Potential, einen absoluten Aufwärtstrend zu erleben.
Der Optimismus der Analysten kommt nicht von ungefähr. Indiens Wirtschaft entwickelt sich prächtig: Abgesehen vom ersten Covid-19-Dämpfer 2020 wächst das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit vielen Jahren kontinuierlich stark. Für 2023 wird das BIP-Wachstum in Indien auf rund 6,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr prognostiziert. Zum Vergleich: Chinas Wirtschaft soll dieses Jahr nur um fünf Prozent wachsen. Und während Indien laut Prognosen jährliche Wachstumsraten von über sechs Prozent bis zum Jahr 2028 verzeichnet, soll Chinas reales BIP im selben Zeitraum kontinuierlich um insgesamt 1,6 Prozentpunkte schrumpfen.
Ein wichtiger Grund für Indiens ökonomischen Aufstieg ist seine demografische Dividende. Indien hat China dieses Jahr als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholt. Nicht nur, dass der geopolitische Rivale mit einer rückläufigen Geburtenrate zu kämpfen hat. Das Durchschnittsalter der indischen Bevölkerung liegt etwa zehn Jahre unter dem in China. Zwar ist eine wachsende Bevölkerung allein noch kein Garant für wirtschaftlichen Erfolg, doch ein derart großes Arbeitskräftereservoir stellt dafür zumindest die Weichen. Morgan Stanley geht davon aus, dass Indien bis 2027 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein wird und damit Deutschland und Japan hinter sich lässt. Bis 2075 könnte Indien dann sogar die USA überflügeln.
Potential in der Techbranche
Der wirtschaftliche Aufschwung ist auch dem indischen Premierminister Narendra Modi zu verdanken, der diverse Reformen vorangetrieben hat, um sein Land zu modernisieren. Modi hat den Binnenmarkt durch Steuerreformen gestärkt, die Infrastruktur ausgebaut und die Strom- und Wasserversorgung verbessert. Seine Kampagne „Made in India“ soll Investitionen erleichtern, Innovationen fördern und eine international konkurrenzfähige Produktionsinfrastruktur im Land aufbauen. Das unterstreicht die vielfältigen thematischen Investmentchancen.
Der Finanzsektor ist am Kapitalmarkt mit 27 Prozent die größte Branche in Indien, gemessen am MSCI India Index. Darauf folgen IT (13 Prozent) und Nicht-Basiskonsumgüter (11 Prozent). Laut Morgan Stanley steckt Indiens größtes Potential aber in seiner Rolle als Technologiefertiger und als aufstrebenden Standort in der globalen Tech-Lieferkette. Demnach könnte die Elektronikfertigung in Indien bis 2032 ein jährliches Wachstum von 21 Prozent auf über 600 Mrd. US-Dollar verzeichnen. Hier profitiert das Land ganz klar davon, dass viele Unternehmen ihre langjährigen Abhängigkeiten von China immer weiter reduzieren. Gleich mehrere internationale Techgiganten wie Apple und Samsung haben hier bereits Fuß gefasst.
Nicht alle Analysten überzeugt
Ob Indien wie von vielen prophezeit tatsächlich die „neue Werkbank der Welt“ wird, bleibt dennoch abzuwarten. Die Morgan-Stanley-Experten bemängeln etwa, dass es noch viele bürokratische Hürden auf diesem langen Weg gebe. Außerdem führen Infrastrukturprobleme trotz aller politischen Ambitionen zu kostspieligen Produktionsverzögerungen für Investoren. Der US-Ökonom Nouriel Roubini kritisiert zudem die Machtverhältnisse im Land. Oligopolistische Konglomerate kontrollierten wichtige Teile der Wirtschaft, wie er in einem Artikel für die Non-Profit-Organisation Project Syndicate schreibt. Das würde die notwendigen Innovationen ausbremsen und Modis „Make-in-India“-Projekt torpedieren.
Die Schweizer Großbank UBS weist noch auf ein ganz anderes Investmentrisiko hin: die hohen Bewertungen. Indische Aktien befinden sich auf „ziemlich extremen Niveau“, so die UBS-Analysten. Die Märkte preisen Indiens Wachstumschancen bereits ein. Während der MSCI India auf ein geschätztes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für 2023 von 19 kommt, ist Konkurrent China mit 12 deutlich günstiger bepreist. Der Emerging-Markets-Index von MSCI kommt sogar nur auf ein Forward-KGV von 11. Noch dazu zeigt sich die Bank deutlich pessimistischer als andere Marktbeobachter, was Indiens Gewinnwachstum in den kommenden Jahren anbelangt. Bei der UBS positioniert man sich daher genau gegensätzlich zur US-Konkurrenz: Die Schweizer Analysten raten dazu, indische Aktien zu shorten.