Capital: Frau Saleheen, wie haben Sie das Jahr 2023 aus ökonomischer Sicht erlebt?
JUMANA SALEHEEN: Unterm Strich war 2023 ein gutes Jahr. Vor zwölf Monaten hatten wir zweistellige Inflationsraten und haben darüber diskutiert, ob es noch weiter nach oben geht. Wir hatten bei Vanguard tatsächlich große Bedenken, dass sich die Menschen an die Inflation gewöhnen und wir dadurch in eine Lohn-Preis-Spirale geraten. Über all das reden wir im Dezember 2023 nicht mehr. Im Gegenteil: Die Inflation fällt im Euroraum stärker als erwartet. Und auf der Produktionsseite gab es auch die eine oder andere positive Überraschung.
Sie meinen, die konjunkturelle Entwicklung war besser als erwartet?
Ja. Letztes Jahr um diese Zeit gingen aufgrund der Energiekrise alle von einer Rezession in Europa aus. Die ist nicht eingetreten – auch wenn wir in einzelnen Märkten eine Abschwächung sehen, etwa in Deutschland.
Sie sprechen es an: Deutschland fällt im europäischen Vergleich etwas zurück. Woran liegt das?
Ich denke, das sind sehr spezifische Probleme. Deutschland war abhängig von russischem Pipeline-Gas, was die Notwendigkeit eines umfassenden Übergangs zu verflüssigtem Erdgas, also LNG, verstärkt hat. Gleichzeitig ist Deutschland auch stärker von der wirtschaftlichen Schwäche Chinas betroffen.
Sie stellen vor allem die guten Entwicklungen 2023 heraus. Was waren aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen dieses Jahres?
Es hat in gewisser Weise doch länger gedauert, die Inflation auf den Zielwert zu drücken. Nicht unbedingt aus ökonomischer Sicht, sondern vor allem aus der Erwartung der Menschen. Deshalb sind auch die Zinsen höher gestiegen als zunächst erwartet. Auch wir bei Vanguard mussten unsere Einschätzung hier nach oben korrigieren. Das ist für viele Menschen ein realer Schmerz, weil Kredite oder Hypotheken teurer werden. Dies macht sich aber nicht so stark bemerkbar, weil wir gleichzeitig keine schwere Rezession erleben – aber real gesehen sind Menschen ohne Ersparnisse, die einen Kredit aufnehmen müssen, höheren Zinssätzen stärker ausgesetzt und daher schlechter dran als zuvor.
Können Sie den Menschen denn jetzt Entwarnung in puncto Inflation geben? Haben wir das Schlimmste überstanden?
Das ist nicht so einfach. Man sollte das mindestens in zwei Teilen erklären. Der eine sind die volatilen Preise.
Klassischerweise Energie und Lebensmittel…
Ja. Und dieser Teil scheint irgendwie verschwunden. Das liegt aber vor allem an Basiseffekten. Auch wenn die Ölpreise im Vergleich zu ihrem langfristigen Durchschnitt hoch bleiben sollten, würden sie die Inflationszahlen nicht mehr beeinflussen, da Inflation ausschließlich die Veränderung der Preise widerspiegelt. Vorausgesetzt, wir erleben keinen neuen geopolitischen Schock, dürften die neuen Lieferketten sicher sein. Damit hätten wir hier auch das Schlimmste überstanden. Und trotzdem sehe ich auch Risiken.
Und zwar?
Vor allem die Dienstleistungsseite, die auch zum Angebot zählt. Wir teilen die Sorge der Zentralbanken, dass die Inflation hier hartnäckiger sein könnte. Das sehen wir schon bei der Lohnentwicklung, aber auch daran, dass die Preise für Dienstleistungen deutlich langsamer sinken als erwartet. Würde ich also sagen, dass wir das Schlimmste überstanden haben? Ja. Würde ich sagen, dass wir über den Berg sind? Nein, noch nicht endgültig.
Lässt sich das angesichts der zahlreichen geopolitischen Krisen überhaupt seriös prognostizieren? Die haben die Prognosebilanz in den vergangenen Jahren doch ziemlich verhagelt.
Nie dagewesene, große Schocks für die globale Wirtschaft, wie die Covid-Pandemie und der Krieg in der Ukraine, haben Prognosen in den letzten Jahren erschwert. Es stimmt, dass wir uns in einer volatileren Welt befinden. Ich würde daher auch nicht von einem Trend bei den sinkenden Preisen sprechen. Es ist eher so, dass wir uns in einer Phase der Mäßigung bei gleichzeitig höherer Volatilität befinden. Das heißt aber auch, dass wir stark überrascht werden könnten.
Welche Risiken sehen Sie für die Preisstabilität im kommenden Jahr?
Zum einen natürlich externe Schocks wie Kriege oder Pandemien. Das lässt sich aber nicht prognostizieren. Für mich liegt das größte Risiko in der Geldpolitik – und zwar, wenn wir den passenden Moment für Zinssenkungen verpassen. Momentan sind die Märkte euphorisiert von den guten Inflationszahlen und preisen bereits Zinssenkungen für den März ein. Das ist sehr früh. Es wäre aus meiner Sicht zwar okay, wenn die Daten bis dahin stimmen. Ich weiß aber nicht, wie ein Lohnwachstum von sieben Prozent mit einem Inflationsziel von zwei Prozent zusammenpassen soll – auch wenn wir wissen, dass es hier immer einen Zeitverzug gibt. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass März, gemessen an unserem Basisszenario, zu früh ist. Eine Zinssenkung im ersten Quartal des kommenden Jahres wäre nur dann wahrscheinlich, wenn die Inflationsdaten besser als erwartet ausfallen oder das Wachstum schlechter verläuft als prognostiziert.
Da sind Sie nicht alleine. Viele Banken preisen Zinssenkungen erst für Mitte des kommenden Jahres ein. Wieso liegen Experten und Markt so weit auseinander bei ihren Zinserwartungen?
Das ist eine spannende Frage. Letztes Jahr war das ähnlich. Da gingen die Märkte von einer Zinssenkung um 100 Basispunkte bis Ende 2023 aus. Das ist offensichtlich nicht eingetreten. Ich glaube, dass sich die Marktteilnehmer an eine Welt des billigen Geldes gewöhnt haben. Einfach, weil sie es lieben. Niedrige Zinssätze kommen den Kreditnehmern zugute und sie stützen zudem die Bewertung der Aktienmärkte. Die Märkte wollen also auch, dass die Zinssenkung im März kommt. Vieles ist mehr Wunschdenken als Realität. Was viele Marktteilnehmer vielleicht übersehen, ist, dass die Inflation nächsten Monat durch Basiseffekte wieder steigen wird. Auch deswegen gehen wir zum Beispiel auf den Juni für die ersten Zinssenkungen.
Von welcher Inflation gehen Sie denn für das kommende Jahr aus?
Für den Euroraum gehen wir von einer Inflation von knapp über zwei Prozent aus. Die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel liegt mit 2,1 Prozent etwas höher.
Das wäre schon sehr nah am Ziel von zwei Prozent. Das spricht doch für eine zügige Senkung, oder?
Ja, das ist sehr nah am Ziel. Unsere Analysen deuten jedoch darauf hin, dass der neutrale Zinssatz – das Zinsniveau, das die Wirtschaft weder simuliert noch einschränkt – um etwa 50 Basispunkte auf 2 bis 2,5 Prozent gestiegen ist. Jede Zentralbank ermittelt diesen natürlichen Zins zwar unterschiedlich und auch die EZB macht das. Die Erhöhung des neutralen Zinssatzes impliziert, dass selbst bei einer zukünftigen Zinssenkung durch die EZB die Zinssätze nicht auf die Tiefststände zurückkehren werden, wie sie nach der weltweiten Finanzkrise 2008/09 verzeichnet wurden. Stattdessen dürfte sich der Zinssatz über den nächsten Konjunkturzyklus hinaus stabilisieren und sich in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich im Bereich von 2 bis 2,5 Prozent bewegen.
Wir gehen davon aus, dass die EZB Ende 2024 den Leitzins auf 3,25 Prozent gesenkt haben wird. Und unserem Modell zufolge, mit unserer erwarteten Kerninflation und unserer errechneten Produktionslücke, kommen wir auf erste Senkungen im Juni. Sinnvoll wäre eine Zinssenkung ab März erst, wenn die Inflation und die Produktionslücke um einen halben Prozentpunkt unter unseren Erwartungen liegen – wir also gute Nachrichten zur Inflation bekämen und schlechte zur Produktion. Das ist aber keineswegs unser Basisszenario.
Lange Zeit war die EZB sehr „hawkish“ in ihrer Kommunikation und hat versucht, die Erwartungen an Zinssenkungen zu dämpfen. Warum vertrauen die Märkte dieser Kommunikation offensichtlich nicht?
Nun ja, die Kommunikation hat sich den vergangenen Wochen tatsächlich ein wenig abgeschwächt. Denken Sie an das jüngste Interview von Isabel Schnabel. Der jüngste Optimismus überrascht mich daher nicht. Ganz grundsätzlich beschäftigt mich das Thema aber sehr. Die Kommunikation der Zentralbanken spielt gerade in Zeiten hoher Inflation und großer Unsicherheit eine wichtige Rolle. Und ich meine, dass die Zentralbank ihre Botschaft gerade dann permanent wiederholen muss, wenn sie den Weg zum natürlichen Zins möglichst weich beschreiten will. Es ist daher zwangsläufig notwendig, dass die EZB noch intensiver kommuniziert.
Können wir im aktuellen Umfeld eine harte Landung vermeiden?
Wir sind recht optimistisch, was eine milde Rezession im Euroraum angeht. Das ist technisch gesehen allerdings keine weiche Landung. Wir gehen davon aus, dass sich die Eurozone derzeit in einer Rezession befindet – Daten gibt es dazu aber noch nicht. Über eine harte Landung machen wir uns weniger Sorgen, weil die Konjunktur und der Konsum sehr widerstandsfähig sind. Die Menschen verlieren ihre Arbeitskraft nicht. Und selbst wenn es Verluste beim Realeinkommen gibt, ist der Konsum immer noch höher als bei Arbeitslosigkeit. Solange die Menschen ein Einkommen haben, werden sie auch Geld ausgeben. Und das erzeugt dann eine Art von weicher Landung im semantischen Sinne.
Gibt es einzelne Branchen, denen eine harte Landung bevorsteht?
Die energieintensive Produktion sollte uns definitiv Sorgen bereiten: Chemie, Stahl, Papier, Raffinerien und vieles mehr. Das ist aber kein neues Thema. In einer Rezession kaufen Menschen weniger langlebige Güter. Sie reduzieren ihre Ausgaben für Haushaltsgeräte, Möbel oder Autos. Auch das Baugewerbe leidet.
Und wer profitiert von diesem Umfeld?
Ganz klar Finanzinstitute durch die höhere Nettozinsmarge. Aber auch Lebensmittelhändler werden stark bleiben, weil Menschen nicht darauf verzichten können.
In Deutschland gibt es eine Diskussion darum, ob unsere Schuldenbremse das Wachstum im kommenden Jahr abwürgen könnte. Was halten Sie von Schulden und Schuldenbremsen?
Fernab vom Beispiel Deutschland denke ich, dass man eine gewisse Flexibilität braucht. Andererseits brauchen wir auch gewisse Regeln für die Fiskalpolitik. Es kommt wie immer auf die richtige Mischung an. Weltweit steigen die Schulden aktuell zu stark – insbesondere in den entwickelten Volkswirtschaften. Da müssen wir extrem vorsichtig sein, denn irgendwann müssen die Rechnungen bezahlt werden.
Frau Saleheen, Sie sind nicht nur Chefökonomin von Vanguard Europe, sondern leiten auch die Einheit für die europäische Investment-Strategie. Daher die Frage: Auf welche Anlageklassen sollten wir 2024 schauen?
Mit Blick auf das aktuelle Umfeld stellen wir fest, dass Anleihen zurück sind. Das ist für Anleger sehr angenehm, weil Anleihen eine verhältnismäßig sichere Rendite versprechen. Bedeutet das, dass man sein gesamtes Geld in Anleihen stecken sollte? Definitiv nein. Traditionell sollte man 60 Prozent in Aktien und 40 Prozent in Anleihen investieren. Im aktuellen Umfeld, in dem die Anleiherenditen so attraktiv sind, würde ich das eher umgekehrt machen. Also ein 40/60-, statt eines 60/40-Portfolios. Allerdings ist es wichtig zu beachten, dass solche Entscheidungen bedacht getroffen werden. Unsere Empfehlung bei Vanguard lautet immer, entsprechend der eigenen Zielen und der eigenen Risikotoleranz zu investieren und ein Timing des Marktes zu meiden.
Immer noch 40/60? Aktien haben doch eine beeindruckende Jahresendrallye hingelegt.
Ja, in der Tat. Wenn wir uns aber die Aktienbewertungen im Verhältnis zu ihren fundamentalen Zahlen ansehen, sind wir der Meinung, dass sich vor allem die USA von diesen fundamentalen Werten entkoppelt haben.
Das heißt, manche Unternehmen sind überbewertet. Meinen Sie damit in erster Linie die großen Big-Tech-Firmen?
Ja, ohne Big Tech hätte es wohl kein Plus bei den großen Indizes gegeben. Der große Schub kommt hier durch das Versprechen von KI, ChatGPT und Automatisierung. Da wurde in den USA viel investiert. Anleihen sind zurück und befinden sich in einer Ära positiver und anhaltender Realzinsen, die wir auch für das kommende Jahrzehnt erwarten. Dies ist eine besonders gute Nachricht für Anleiheanleger und eine weniger gute Nachricht für globale Aktienanleger, da höhere Zinssätze tendenziell die "Fair-Value"-Bandbreite für Aktien drücken. Wir halten US-Aktien derzeit für über-, europäische Aktien hingegen für fair bewertet. Zusammengefasst ist die Risikoprämie zwischen Aktien und Anleihen auf einem historischen Tiefststand. Die höheren Renditen, die man durch ein erhöhtes Risiko bei Aktien hat, sind sehr niedrig. Das muss nicht so bleiben.