Bis in die 1900er -Jahre regierte die „Deutschland AG“. Ein Netzwerk großer Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen bestimmte die Geschicke vieler deutscher Unternehmen. Es gab viele gegenseitige Kapitalbeteiligungen, personelle Verflechtungen und Seilschaften. Ein „stalinistisches Abstimmungsverhalten“ prägte viele Hauptversammlungen. Die Vorstände der großen deutschen Konzerne konnten weitgehend unbehelligt von außenstehenden Aktionären ihre Geschäfte führen.
Diese Machtkonzentration hat sich glücklicherweise in den letzten Jahrzehnten aufgelöst. Industrie- und Finanzunternehmen fokussieren sich schon seit geraumer Zeit auf ihre Kerngeschäfte. Der Boom der organisierten Finanzmärkte hat dazu geführt, dass die Aktionärsstruktur vieler börsennotierter Unternehmen mittlerweile erfreulich heterogen ist. Börsennotierte Unternehmen sind heute im Besitz von vielen privaten und institutionellen Investoren aus dem In- und Ausland. Man findet viele große Aktien-, Pensions- und Staatsfonds, bei den allermeisten Unternehmen dominiert jedoch der Streubesitz (Kleinanleger ohne strategische Interessen).
Einfluss der Großaktionäre wächst
Mit einem hohen Streubesitz geht jedoch auch ein Nachteil einher: Der Einfluss der Großaktionäre wächst. Viele Kleinanleger scheuen den Aufwand einer Hauptversammlung und die Präsenz der vertretenen Stimmrechte beträgt bei großen Konzernen häufig nur noch ca. 60 Prozent. Mit etwa 30 Prozent der Stimmrechte kann man folglich Mehrheitsentscheidungen herbeiführen – entsprechend kann mit 30 Prozent der Stammaktien gemäß Übernahmegesetz (WpÜG) die Kontrolle über ein börsennotiertes Unternehmen erreicht werden (Übernahme, Akquisition).
Mit dem dynamischen Wachstum der passiven Indexfonds (ETFs) haben insbesondere die großen US-Anbieter – namentlich Blackrock, Vanguard und State Street – deutlich an Einfluss gewonnen. Bei den großen amerikanischen Unternehmen im S&P500 und MSCI World haben diese Vermögensverwalter vielfach schon die Kontrollschwelle erreicht. Bei den großen Unternehmen im Dax ist die Machtkonzentration jedoch noch deutlich geringer (im Mittel ca. 8 Prozent Anteil). Dax-Unternehmen sind kaum mehr in wichtigen Indizes weltweit vertreten. Bei den kleineren Unternehmen im MDax oder SDax sind die Anteile der ETF-Anbieter sogar zu vernachlässigen.
Aus Sicht von Kleinaktionären ist der rasante Aufstieg der amerikanischen ETF-Anbieter zweischneidig. Die Stimmrechte werden sehr transparent und grundsätzlich im Sinne der Anleger ausgeübt. Auf der anderen Seite konkurrieren die großen Vermögensverwalter aber auch über Preise und Erfolge (zumeist gemessen am Tracking Error). Sie haben deshalb einen großen Anreiz, ihre Organisationen schlank zu halten. Die großen Vermögensverwalter lassen sich deshalb beim Abstimmungsverhalten regelmäßig von privaten Anbietern wie Institutionell Shareholder Services (ISS) oder Glass Lewis beraten.
Vermögensverwalter bestimmen Standards
Die Konzentration des Marktes für Stimmrechtsberatung (Proxy Advisory) muss nachdenklich stimmen. Die Voting Guidelines dieser Unternehmen schaffen nun de facto den Standard für die Corporate Governance der weltweit bedeutendsten Unternehmen. Finanzielle Fragen wie die Entlohnung des Managements oder das Verhalten bei Kapitalmaßnahmen nehmen in den Guidelines breiten Raum ein. Umwelt- und soziale Aspekte werden ebenfalls ausgiebig beachtet. Aber ein Aspekt kommt beständig zu kurz: die Beschäftigung mit branchenspezifischen Geschäftsmodellen und Strategien.
Ärger bei Bayer & Monsanto, Deutsche Bank & Postbank und Karstadt-Quelle
Klare Positionierungen, Forderungen oder gar Attacken bei wichtigen strategischen Entscheidungen vermisst man deshalb schmerzlich. Möglicherweise hätte Bayer dann nicht Monsanto übernommen und 50 Mrd. Euro an Marktwert vernichtet. Vielleicht hätte sich die Deutsche Bank nicht an der Postbank überhoben und einst stolze Konzerne wie Karstadt-Quelle oder Air Berlin wären nicht in den Ruin getrieben worden. Wahrscheinlich hätten die Autohersteller sogar frühzeitiger in massentaugliche Elektromodelle investiert.
Passive Investitionen in ETF führen folglich zu einem eher passiven Verhalten auf Hauptversammlungen. Bei genauer Betrachtung werden aus den Tigern deshalb eher zahme Katzen. Intensive Beschäftigung mit Unternehmen und Geschäftsmodellen zehrt an den geringen Margen. Und es birgt Reputationsrisiken, was die Vermögensverwalter viel Geschäft kosten könnte. Der Boom von ETFs senkt damit den Druck auf Unternehmen, gute strategische Entscheidungen zu treffen – darunter leiden letztlich alle Investoren.